The Death of Graffiti

Vorwort

Jo Preußler

Am Anfang war eine Provokation – die umfassende Abrechnung mit der Graffitikultur. Der sinnbildliche Totenschein, der von Oliver Kuhnert ausgestellt wird, zieht eine kritische Bilanz der habituellen, konsumistischen und ästhetischen Ausformungen in der Graffitiszene. 33 Autor_innen folgten der Einladung, sich mit den 18 Thesen seiner Streitschrift THE DEATH OF GRAFFITI1 und seiner Diagnose auseinanderzusetzen. Zur Debatte stehen seine umfassende Klage über „szenetypische Fehlwahrnehmungen und Missstände“2, die Widersprüche und Abhängigkeiten, mit denen Graffitisprüher konfrontiert sind, sowie Fragen zum Selbstdarstellungsdrang, zur Korrumpierbarkeit und zum ästhetischen Vorankommen. Wer dieses Lamento über den entfremdeten und scheinheiligen Akteur ohne Skepsis anerkennt, muss zu dem Schluss kommen, dass es kein richtiges Sprühen im falschen gibt. Dass es mitnichten so ist, wird in den Erwiderungen lebhaft verteidigt. „Dennoch scheint sich die Klage zunächst einmal nur Bahn brechen zu können, wenn sie alles mit sich reißt – und es ist schließlich an jenen, die die Klage vernehmen, ihr einen poetischen und damit kritischen Sinn zu verleihen, der weniger das beklagte Phänomen als vielmehr die Zeit, in der es seinem Untergang geweiht ist, problematisiert.“3

Bereits 1975 beschrieb Jean Baudrillard in seinem „Kool Killer“- Essay die Sterblichkeit, Domestizierung und Vereinnahmung von Graffiti. Inzwischen wurde wiederholt der Tod von Graffiti ausgerufen, Beerdigungen gefeiert und Nachrufe veröffentlicht. Als Oliver Kuhnert Ende 2014 an den Verlag herantrat, um seinen Rundumschlag gegen die Graffitikultur zu veröffentlichen, kam mir dies anachronistisch vor. Unter veränderten gesellschaftlichen Umständen werden auch in einer nicht-institutionell verankerten Kultur die Vorstellungen von Freiheit, Originalität und Regelhaftigkeit stetig neu ausgehandelt. Die Gerüchte um Verführung, Reformen, Niedergang und Wiedergeburt, die in der Luft sind und um Verbreitung streiten, zeugen davon. Das besondere an TDOG ist aber, dass Kuhnert hier mit etwas abrechnet, womit er sich lange identifizierte und sich nun selbst zum Außenseiter jener Sache macht. Da die ersten Leser so ausgeprägt und emotional auf den Ton und die Erklärungen seiner Thesen reagierten, wurde klar, dass die angesprochenen neuralgischen Punkte in einer ausführlichen Debatte untersucht werden sollten. Denn allgemein ist zu fragen, wer kritisch über die Schreibenden spricht und sprechen kann? Die ausufernden Demonstrationen, der stetig geschaffenen Arbeiten im ungeklärten Feld entspringen einem nebligen Wettstreit der Präsenz - aber wen oder was repräsentieren sie, wer liest und interpretiert sie und zu welchem Zweck?

COGITATIO·FACTUM und ich haben Sprüher_innen, Wissenschaftler_innen, Aktivist_innen und Künstler_innen eingeladen Kuhnerts „Fundamentalkritik“ zu beurteilen, um die längst fällige Debatte um Werte und Bewertungen sozialer, kultureller und ästhetischer Aspekte von Graffiti anzuregen. In ihren unterschiedlichen Perspektiven auf das Phänomen greifen sie Themen wie Egozentrismus, Aneignung, Männlichkeit, Spiel, Besessenheit, Selbstoptimierung, Politisierung und soziale Verantwortung auf. Allen 33 Autor_innen gemein, ist, dass sie sich den Erwartungen an und Sehnsüchten nach Graffiti stellen und auf die von Kuhnert hervorgebrachten Enttäuschungen reagieren. Vor diesem Hintergrund diskutieren sie historische, kulturelle sowie ethische Motive und Tendenzen des zeitgenössischen Menetekels. In atmosphärischen Selbstbeobachtungen, Reflektionen und Phantasien werden die TDOG-Thesen von den Autor_innen verschiedener Generationen weitergedacht oder ihnen eigene Entwürfe entgegengestellt. So wie sich die unsanktionierten Schriftbilder im Stadtraum einer einheitlichen Begrifflichkeit entziehen, jeder zum Adressaten werden kann und so stetig unerhörte Lesarten generiert werden, spiegelt sich die Heterogenität des Gegenstands in den Repliken.

Wenige Alltagsphänomene sind einer solchen Lebendigkeit, Dynamik und Metamorphose unterworfen wie Graffiti. Der verkörpernde Prozess und eine zwischen Erscheinen und Verschwinden oszillierende Einschreibung charakterisieren das Phänomen bis heute als eine genuin transitorische Kulturtechnik und machen es für die ästhetische Debatte so interessant. Graffiti ist eine ephemere Schrift, die „in der Zone zwischen Materialität und Immaterialität, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Präsenz und Absenz“4 erscheint. Sie folgt keinem klassischen Schrift- oder Bildbegriff, weil ihre Beständigkeit im urbanen Raum nicht geduldet wird und sie als performative Handlung zwar die kollektive Norm zitiert, aber die Überschreitung dieser Norm in sich trägt. Die Art und Weise ihres Auftretens kann als Initiation und Teilhabe wahrgenommen werden – gemeinhin wird sie aber als Störung und somit als Bedrohung verstanden. Dennoch sind Graffiti oberflächliche Aufführungen eines Freiheitswillens, einer Lust am Ausdruck und der renitenten Partizipation an der kulturellen Stimmung des Lebensraumes, hartnäckig und provisorisch zugleich. Sicher ist, dass die Eigenarten des Auftretens von Graffiti nicht nur Wertungen provozieren sondern auch Imaginationen verstärken.

„Vor allem aber drückt sich in der Graffitibewegung die Wettbewerbs-, Leistungs- und Anhäufungsmentalität des überwiegend auf sich selbst und seine Bedürfnisse fixierten Individuums aus.“5 Kuhnert versucht ins Herz der Ungereimtheiten und Widersprüche der Graffitisprüher vorzudringen, er geißelt ihren Egozentrismus und kann nicht verstehen, wie sie sich dem Mainstream anbiedern. Hatte die sich selbstorganisierende Bewegung jemals einen verborgenen idealistischen Kern, den es heute zu verteidigen gilt? Oder war das Schreiben von Namen schon immer nicht mehr als ein existenzieller Ausdruck, ein Abarbeiten an Grenzen oder letztendlich eine Praxis der Vergeblichkeit? Ist im Zeitalter totaler Öffentlichkeit, Reglementierung und Kommerzialisierung überhaupt noch kreativ-autonome, unkommerzielle Aktivität möglich?

Von vielen Autor_innen wird Graffiti als Symptom für Veränderungen und Entwicklungen betrachtet. Inwieweit die Ausdrücke subversiv oder rituell motiviert sind, ob sie als Übergang in die ästhetische Ausbildung und Verantwortung hilfreich sind und möglicherweise zu politischem Aktivismus oder dem kooperativen Dialog mit den Eigentümern von Oberflächen führen, darüber gibt es verschiedene Ansichten. Den atmosphärischen und analytischen Repliken von jungen und geübten Autor_innen gemein ist eine Retrospektive auf das Erwachsenwerden von und mit Graffiti. Schauen wir auf die fast 50jährige Geschichte des amerikanischen Graffiti zurück und fragen warum der Mythos von Graffiti als Botschaft ohne Bedeutung weiterhin durch den Raum geistert? Bedeutet nicht jede im öffentlichen Raum vollzogene Handschrift etwas, weil sie Kraft hat? Verbirgt sich hinter jedem gesprühten Zeichen nicht auch eine Sprache der Gefühle, weil sich die Verursacher_innen in ein agonales, ästhetisches und mystisches Spiel stürzen? Und heißt dies nicht ebenso, dass sie sich in der Versicherung ihrer Individualität zu irrationalen und uneindeutigen Ausdrücken versteigen? Lässt sich das Archaische, Körperliche und Männliche leugnen, was in den augenscheinlichen oder dokumentierten Aktionen der Sprüher_innen zu Tage tritt? Kann die urbane Bildwährung aus werbendem Namen und persönlicher Marke als Gegentendenz zu den heutigen Bildökonomien gesehen werden? Führt die Selbstverwirklichung zwingend zur Selbstausbeutung? Wie verhalten sich abweichende Schrift und Gegenbildlichkeit, die in den klandestinen Zeichen gelesen werden können zur alles beherrschenden Warenästhetik und im Kontext von Kunst und Werbung?

Wenn wir Graffiti als ein „Denkmal für gesellschaftliche Wert-Konflikte“6 untersuchen, hat die provokante Schrift von Oliver Kuhnert dazu Impulse gegeben. Sie versammelt eine Vielzahl von zwiespältigen Aspekten und streitbaren Ansichten zu Graffiti, die, da ihr Potential darin liegt, dass sie verstören, polarisieren und in Zweifel gezogen werden können, hier argumentativ und pointiert verhandelt werden. Die Repliken des dritten Bandes der Menetekel-Reihe7 sollen hierzu ein Anstoß sein.


  1. Der Initialtext The Death of Graffiti von Oliver Kuhnert folgt dem Vorwort, S. 28-39 und wird TDOG abgekürzt. 

  2. Kuhnert, S. 29, Vorbemerkung. 

  3. Siehe Replik von Christian Driesen, S. 143. 

  4. Gilbert, Anette: Ephemere Schrift. Flüchtigkeit und Artefakt. In: Die Sichtbarkeit der Schrift. Hrsg. von Susanne Strätling und Georg Witte. München 2006, S. 42. 

  5. Kuhnert, S. 30, Kap. II. 

  6. Siehe Beitrag von Jule Köhler, S. 178. 

  7. Die Reihe widmet sich pluralen und selbstreferentiellen Lesarten von Graffiti und bietet Autoren eine Bühne, die sich intensiv mit dem Phänomen beschriebener Wände und den Gesten ihres Entstehens im Kontext sozialer und urbaner Veränderungen auseinandersetzen sowie die Vielgestalt der Schriftbilder und die Arten ihres Verstehens reflektieren. Dumar Novys What Do One Million Ja Tags Signify eröffnete 2015 die Serie, gefolgt von Kat Dogtoks Verehrtes Phantom, 2017. 

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