The Death of Graffiti

Konservativ, maskilistisch und reaktionär: Sind Graffiti wirklich tot?

Ilaria Hoppe

Diese Replik auf Oliver Kuhnerts The Death of Graffiti begründet sich über meine mittlerweile mehrjährige Auseinandersetzung mit Urban Art aus wissenschaftlicher Perspektive sowie als Rezipientin von Graffiti in Berlin. Allein schon der Umstand, dass man sich an Hochschulen mit Graffiti beschäftigt, könnte dafür sprechen, dass sie nicht mehr als aufständische Zeichen im Stadtraum zu betrachten sind, sondern von der Gesellschaft vereinnahmt wurden. Durch meine Forschung trage ich also zu ihrem ‚Tod‘ bei. Darüber hinaus gelten sie nicht mehr als Zeichen eines Aufstandes von unten, durch sozial benachteiligte Schichten sondern als „Ausdruck von Luxus und Lifestyle“ (Kuhnert, I), die zum Beispiel in Stadtvierteln wie Berlin-Kreuzberg zur Gentrifizierung beitragen. Während andernorts nach wie vor versucht wird, eine Zero-Tolerance-Politik gegenüber Graffiti durchzusetzen, finden es die BoHos (bourgeoise Bohemiens) cool mit ihnen zu wohnen. Das hat wohl auch zum sogenannten Anti-Style geführt, der nicht der Tradition des American Graffiti folgt.

Dieser Konflikt beruht meiner Meinung nach auf mehreren Missverständnissen, denn 1. ist Kreuzberg eine sehr tolerante Insel für alle möglichen subkulturellen Aktivitäten, eine Art soziales Labor; dies gilt sicherlich nicht für andere Stadtviertel wie zum Beispiel den Potsdamer Platz, der als privates Eigentum durch Sicherheitskräfte und Videoüberwachung kontrolliert wird; dort findet man keine Graffiti. 2. Gehen viele Diskussionen um Widerständigkeit davon aus, dass es irgendwo einen ‚reinen‘ Raum gäbe, der außerhalb unserer sozialen Ordnung stünde. Es gibt aber kein ‚Außen', das nicht korrumpiert wäre, denn wir alle – so subversiv und versteckt die jeweilige Szene auch sein mag – nehmen unsere Erziehung und Prägung mit dorthin, wie zum Beispiel die angenommene Geschlechtsidentität oder eine Orientierung an Leistung und Wettbewerb. Mögen Graffitis am Anfang auch ästhetisch eine Neuerung gebracht haben, standen sie doch nie außerhalb der Ordnung, sondern waren Teil der Ästhetisierung des Alltags und der urbanen Umgebung. Insofern ist es zwar richtig festzustellen, dass Graffiti zu einem Wirtschaftsfaktor geworden sind – inklusive der Reinigungsfirmen und der Produktion von abweisenden Baumaterialien etc. – aber die meisten Bürger_innen lehnen Graffiti nach wie vor ab; sie möchten nicht, dass ihr Haus beschmiert wird, sondern fordern die Rücksichtnahme gegenüber ihrem Eigentum. Insofern würde ich Graffiti nicht als „konventionalisiertes Massen- und Alltagsphänomen“ (Kuhnert, II) bezeichnen. Vielmehr bleiben Graffitis widersprüchliche Zeichen und daher weiterhin zumindest für die Erforschung visueller Kulturen interessant. Im Folgenden möchte ich drei Aspekte darstellen, die diese Widersprüchlichkeit zum Ausdruck bringen: Zwei Aspekte zeigen eher den konservativen Charakter von Graffiti auf und vertiefen Kuhnerts Kritik; das dritte Argument resultiert hingegen aus meiner Auseinandersetzung mit kritischer Theorie, so dass Graffiti nach wie vor als subversive Zeichen in Erscheinung treten, da sie die Ordnungsmächte unserer Gesellschaft selbst zum Vorschein bringen.

Kunstgeschichte von Gestern

In der Auseinandersetzung mit Graffiti fällt die auch von Kuhnert monierte konservative Nomenklatur innerhalb der Szene auf. Dem Gestus nach ist sie gegen das Establishment ausgerichtet, reproduziert aber im Inneren zahlreiche ihrer Normen. Dazu gehört überraschenderweise die Bewertung der Styles und ihrer Writer. Innerhalb der Szenen ist ein Bewertungsmaßstab entstanden, wie er sich in der Kunstgeschichte seit der Renaissance entwickelt hat (Vasari) und im 19. Jahrhundert verfestigte. Das fängt bei der Benennung des piece an, das sich von masterpiece Meisterwerk ableitet, und geht bis zur Unterscheidung von toys und kings, also zwischen Lehrling und Meister. Die Kriterien, die dafür angelegt werden, orientieren sich an ‚Qualität'. Doch was soll das sein? Spätestens seit Marcel Duchamp 1917 sein Urinal ausstellte, ging es in der Kunst nicht mehr nur um die meisterhafte Ausführung eines Kunstwerkes, sondern auch um seine Auswahl und Präsentation sowie um die Beherrschung der Medien, die es reproduzieren. Gerade die Möglichkeiten technischer Vervielfältigung stellten die Originalität eines Kunstwerkes radikal in Frage (Benjamin). Außerdem kam es ab den 1960er Jahren zur Diskussion, was überhaupt Autorschaft bedeuten kann, ob es überhaupt so etwas wie einen ‚Meister‘ gibt (Barthes, Foucault). Einerseits stehen auch Künstler im stetigen Austausch mit ihrer Umwelt: sie kopieren, reproduzieren, zitieren oder arbeiten sowieso gemeinsam mit anderen; andererseits kann das Werk eine Vielzahl von vorher nicht geplanten eigenständigen Bedeutungen annehmen (Eco). Der ‚Meister‘ beherrscht sein Werk nicht, da es im Fall von Graffiti für die einen bloße Schmiererei ist, für die anderen das kunstvoll ausgeführte Pseudonym des besten Kumpels. Die Rezipient_innen bestimmen letztlich ihre (urbane) Realität.

Innerhalb der Wissenschaften setzten sich außerdem politische Forderungen marginalisierter Gruppen durch und Kategorien wie race, class, gender fanden Eingang in die theoretische Betrachtung. So wurden tradierte Bewertungspraktiken für die Kunst von Afroamerikanern, Native Americans oder Frauen hinterfragt. Ihre Werke waren zwar durchaus Gegenstand der Kunstgeschichte, wurden jedoch als Kunsthandwerk und als der Hochkunst nicht ebenbürtig deklassiert; das heißt, die Perspektive aus der man eine ‚Meistererzählung‘ stiftet, ist nie neutral. Diese basiert darauf, dass spezialisierte Fachleute bestimmen, wer dazu gehört und wer nicht. Das verlangt eine Ausbildung und das durch Institutionen abgesicherte Publizieren. Die so hergestellten Texte, werden dann in der Lehre als objektive Wahrheit vorgestellt und weitergegeben, so dass sich ein Kanon ergibt, zum Beispiel weißer, männlicher und bürgerlicher Künstler und Wissenschaftler. In der neueren Kunstgeschichte geht es also vielmehr darum, solche Meisterdiskurse zu dekonstruieren, um die dahinterliegenden hierarchischen Kriterien aufzuzeigen, die sich oftmals als natürliche Wahrheiten ausgeben. Diesem Prozess müsste sich Graffiti demnach auch stellen, denn der Kanon der Writer unterliegt ebenfalls einer Ideologie der Männlichkeit.

Gender und Graffiti

Das bringt mich zu meinem zweiten Argument: Der Reproduktion hegemonialer Männlichkeit in der Graffiti-Szene und ihrer Selbstdarstellung. Dies mag zuerst widersprüchlich erscheinen, entstehen Graffitis doch anonym und sind höchstens mit einem Pseudonym zu verbinden, hinter dem sich ganz unterschiedliche Identitäten verbergen könnten. Bereits nach dem ersten großen weltweiten Erfolg von Graffiti als subkultureller Jugendbewegung entstanden zahlreiche, zumeist sozialwissenschaftliche Studien, welche die Frage nach dem Geschlecht der Urheber stellten. Damit verbunden waren Untersuchungen des Style und ob dieser geschlechtsspezifische Merkmale aufweise. Dahinter verbirgt sich die innerhalb der feministischen Bewegung der 1960er/70er Jahre oft diskutierte Frage nach der Möglichkeit einer geschlechtsspezifischen Ästhetik.

Beschäftigt man sich intensiver mit dem Phänomen Graffiti, werden jedoch andere Parameter deutlich: Graffiti ist männlich dominiert, mehr noch dient Graffiti überhaupt dazu Männlichkeit zu entwickeln und zu behaupten (Macdonald). Dazu werden bestimmte Geschlechtsstereotypen aktiviert und ständig wiederholt, wie Risikobereitschaft, Abenteuerlust, Kriminalität, Schmutz, Belastbarkeit, Mut und Stärke etc. Diese mit Männlichkeit assoziierten Attribute werden innerhalb der Szenen von Dritten durch fame und respect bestätigt und aufgewertet. Die Illegalität dient darüber hinaus der Akzeptanz in der Subkultur; die kriegerische Sprache, wie bombing, ist ebenfalls männlich konnotiert. Writer befinden sich zumeist in einem aktiven Konflikt mit der Polizei und fassen ihre Tätigkeit häufig eher als Kampf auf, statt als künstlerische Tätigkeit. Daher ist es auch für Mädchen oft nicht attraktiv Graffiti zu gestalten, da sie sich einem männlichen Kanon anpassen müssen. Umgekehrt müssen female writer zeigen, dass sie keine ‚Mädchen‘ sind. Wie viele andere Subkulturen lehnt sich Graffiti gegen Konventionen auf, aber nicht gegenüber dem traditionellen Rollenmodell.

Kool Killer und die Drohnen

In diese militaristische, maskuline Ordnung passt auch mein letzter Punkt zur urbanen Aufrüstung im Kampf zwischen Graffiti und Ordnungsmächten. Methodisch habe ich mich an dem Begriff der 'countervisuality‘ orientiert, als einer These der Gegenbildlichkeit oder Kontervisualität, die Nicholas Mirzoeff in seinem Buch The right to look. A counterhistory of visuality von 2011 formuliert hat. Er führt den Begriff 'visuality‘ im englischen auf einen Zusammenhang im 19. Jahrhundert zurück, der nicht Repräsentation im visuellen Sinn meint, sondern autoritative Texte, welche die Macht haben, Bedeutung innerhalb eines hegemonialen Diskurses zu etablieren. Als 'countervisuality‘ erkennt er Formen des Widerstands an, die mit der normativen Wahrheit einer Gesellschaft verbunden sind und diese durch subkulturelle Strategien rekonfigurieren. Die visuellen Medien und die Konstruktion eines Blickregimes dienen in dieser Figur zur Durchsetzung eines hegemonialen Diskurses, den Mirzoeff zuerst auf den Sklavenplantagen der Kolonialmächte ausmacht. Hier war es der Aufseher, der seine Autorität über den dominanten Blick ausübte, um Sklaven zu kontrollieren; vergleichbar der erhöhten Position auf dem Feldherrenhügel, auf dem sich Kriegshelden haben darstellen lassen.

Ein Hauptkriterium, um Visualität auf diese Weise zu diskutieren, ist mit der Kritik an der Zentralperspektive verbunden, als Konstruktion einer Machtbeziehung. Vor allem Autoren und Autorinnen der Visual Culture Studies haben die Kritik an der Zentralperspektive als 'scopic regime‘ diskutiert und sie als machtvollen Apparat definiert, der seine Effekte in Medien wie Fernsehen, Fotografie, Film, Videokamera, Computer und in jüngerer Zeit in Satelliten und Drohnen gefunden hat. Als Instrumente der Kontrolle und Überwachung bieten diese Technologien scheinbar objektive Evidenz. Sie helfen dabei einen hegemonialen Diskurs der Macht und Legitimität aufrecht zu erhalten, auch weil sie von einem medialen Subtext begleitet werden, der ihnen zu einer scheinbar objektiven Bedeutung verhilft. Diese Techniken werden weltweit zur Aufstandsbekämpfung und im 'War on Terror‘ eingesetzt; zugleich – so macht Mirzoeff deutlich – sind sie in unsere Städte und unseren Alltag eingezogen. Er argumentiert, dass das System der Überwachung der Sklavenhalterplantagen zuerst in die moderne Stadt gebracht wurde, und sich danach global verbreitet hat, in einer post-panoptischen Visualität, die durch das göttliche Auge der Satelliten und Drohnen beherrscht wird, die alles sehen ohne selbst gesehen zu werden. Nach Mirzoeff leben wir in einer Ära der ‚Neovisualität‘ (Neovisuality), in der Autorität und Macht durch permanente Überwachung aller Lebensbereiche durchgesetzt werden.

Nehmen wir nun die Kritik an der Zentralperspektive ernst und übertragen sie auf Graffiti, so fällt zuerst auf, dass sie tatsächlich kein Bild im traditionellen Sinn sind. Dafür fehlen der Rahmen und die dreidimensionale Perspektive, die eine tiefenräumliche Illusion vortäuscht. Zwar deutet der sogenannte 3D-Style räumliche Tiefe an, aber nur innerhalb der Zeichenfolge oder bei einem hinzugefügten character. Das piece selbst ist nicht innerhalb eines räumlichen Rahmens situiert und stört so die Alltagswahrnehmung. Darüber hinaus erschließt sich seine stark codierte Bedeutung der Allgemeinheit nicht und irritiert so zusätzlich das Publikum, wie Jean Baudrillard in seinem Essay Kool Killer bereits argumentiert hat.

Obwohl Graffiti insbesondere in den 1980er Jahren seinen Weg in den Kunstmarkt und den Mainstream bereits gefunden hat, wird es dennoch weiterhin als Vandalismus betrachtet und häufig mit harten Strafen geahndet. In seinem Artikel The wars on graffiti and the new military urbanism hat Kurt Iveson gezeigt, wie der ‚War on Graffiti‘ zur Verbreitung militärischer Technologie und geheimdienstlicher Taktiken im Bereich urbaner Sicherheitspolitik beigetragen hat; Strategien wie sie auch im ‚War on Terror‘ erprobt und eingesetzt werden. Zur Militarisierung des Alltags in urbanen Räumen gehören Nato-Stacheldraht; mobile Überwachungskameras, die einen Alarm und Echtzeit-Aufnahmen auf die Smartphones der Sicherheitskräfte schicken; akustische Sensoren, die auf Frequenzen und Geräusche von Spraydosen reagieren; GPS Ortungsgeräte, Geruchssensoren oder Spionage. 2014 hat die deutsche Polizei gemeinsam mit der Deutschen Bahn Drohnen getestet, um Graffiti-Sprayer und Kupferkabeldiebe zu verfolgen.1 Folgt man Mirzoeffs Argument der ‚Neovisuality,‘ als der Erhaltung von Autorität durch permanente Überwachung, dann können der Einsatz von Drohnen und die von Iveson benannten Mittel im Einsatz gegen Graffiti darauf hinweisen, dass sie immer noch als subversive Strategie im urbanen Raum betrachtet werden. Um diese Praktiken in ihr Gegenteil zu wenden, hat der New Yorker Künstler und Aktivist KATSU – der sich selbst als Vandale, Künstler und Hacker bezeichnet – die technischen Möglichkeiten der Drohnen für das Sprühen getestet.2 Statt also die Drohnen einzusetzen, um Writer zu verfolgen, experimentiert KATSU mit der Technik, um besonders schwer zugängliche Stellen zu erreichen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Graffiti immer noch als recht lebendige und chaotische Bedrohung für die Sicherheit der Städte – und das heißt für die Gesellschaft insgesamt – betrachtet wird, und zwar als einer Guerilla-Taktik, die man kontrollieren möchte.


  1. Klaus Jansen, „Deutsche Bahn plans to use drones to catch graffiti artists“, DW, 3. März 2013; http://dw.de/p/18ife; letzter Zugriff 11. Januar 2016. 

  2. Oliver Wainright, „Spraycopter: the drone that does graffiti“, theguardian, 21. April 2014; http://www.theguardian.com/artanddesign/architecture-design-blog/2014/apr/21/drone-does-graffiti-street-art; letzter Zugriff 11. Januar 2016. 

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