The Death of Graffiti

Spekulative Schrift

Paul Vector Codierer

“Die Entwicklung des Wohnungsbaus in Ostberlin nach 1990 in knapper Form: Volkseigenes Wohneigentum wird in staatseigenes Wohneigentum umgewandelt und danach teils an Verbliebene von Enteigneten rückübertragen, privatisiert oder in die staatseigenen Wohnungsbaugesellschaften überführt. Viele Stadtteile werden als Sanierungsgebiet deklariert um den baulichen Bestand zu erhalten. Durch staatliche Förderung, Kreditprogramme und Steuervergünstigungen soll die Renovierung der zum größten Teil privatisierten Wohnungsbaubestände stimuliert und gesteuert werden. Mit der stattfindenden Renovierung und einer Aufwertung des Wohnkomforts stiegen auch die Immobilienpreise in den betroffenen Gebieten. Dadurch wurde der Neubau von Immobilien interessant für Unternehmen, da die Gewinne in Relation zu den Baukosten stetig stiegen.”

Während Ost-Berlin Anfang der 1990er Jahre geprägt war von seinen Lücken in der Blockbebauung so ist dies heute, im Jahr 2015, kein herausragendes Merkmal des Berliner Städtebaus mehr.

Die Lücken in der Mietshausbebauung fanden einen anderen Nutzen: Garagen, Kohlenhandel, Spielplatz, Brache, Beet, Weg, inoffizieller Park und anderes. Nach 1990 begannen Menschen den Ostberliner Außenraum als Schreiboberfläche für Pseudonyme zu verwenden. Während die Schrift anfänglich noch verhalten und vereinzelt auftrat, schwappte sie doch aus dem ehemaligen Westberlin herüber und begann sich mit der Zeit auf den städtische Flächen zu verdichten. Die ungeklärten Besitzverhältnisse der Wohnhäuser sowie die bevorstehenden Renovierungen schafften ein Milieu, in dem diese unautorisierten Schriften sich ungefährdet vermehren konnten ohne zu verschwinden. Mit dem Einsetzen des Sanierungsregimes und dem Entstehen komplett renovierter Häuser ohne Einschusslöcher, kaputte Fenster, offene Haustüren oder Erinnerungstafeln an gefallene Kommunisten veränderte sich dies. Die Schrift auf einem renovierten Haus war so viel deutlicher, sie wirkte auf einmal so kontrastiert und scharf umrissen. Der Außenstehende stolperte darüber und der Besitzer fing an über Gegenmaßnahmen nachzudenken oder rief sogar die Polizei an, um eine Anzeige gegen Unbekannt zu erstatten. Durch die eingehenden Anzeigen wurde die Polizei auf die Problematik mit der unautorisierten Schrift sensibilisiert und entwickelte Gegenmaßnahmen. Die Verhandlungsoptionen für den Beschriftenden begannen sich zu minimieren und führten zu einem Scheideweg an dem es hieß: sich verstecken oder militärisch vorgehen. (Da der militärische Ansatz langweilig ist, wird hier auf eine Erörterung verzichtet.)

Da also zu dieser Zeit noch viele offene Hinterhöfe und Baulücken, also undefinierte Flächen mit angrenzenden Wänden existierten, begannen einige ihre Beschriftungen an eben diesen Orten stattfinden zu lassen. Ein leichter Sichtschutz durch ein Gebüsch oder einen Zaun ließ für die Beschriftungen mehr Zeit, wodurch ein anderer Dialekt entstand. Die Schrift schien auf diese Verwandlung zu reagieren, schien sich mit Ihrer Umgebung zu arrangieren. Die Schrift wurde ornamentaler und farbenfroher, aber gleichzeitig organischer und involvierter. Ein Baum konnte sich vor die Schrift schieben und sie hinter sich verbergen. Blätter ließen Schatten in der Schrift, wurden von Wandfarbe betropft oder in die Schrift eingezogen und auf der Wand festgeklebt. Die Schrift, die aus Wandfarbe geformt wurde, begann sich anders zu bewegen. Die Formen, die sie schuf, reisten in die Welt. Die Hinterhöfe und Häuserlücken wurden zu internationalen Treffpunkten der Schrift. Die Schrift kommunizierte miteinander, tauschte sich aus und verweilte in der Zurückgezogenheit.

Es entstand die Idee von symbolischem Wohnraum oder einem imaginierten Gegenraum zum entstehenden Stadtraum, der durch Politik und Wohnungsbau definiert wurde.

Aber sowohl die Schrift als auch der Wohnungsbau ließen die Brachen und Lücken nicht ruhen. Nachdem die Schrift darauf aufmerksam machte, dass es Räume gibt die noch nicht bebaut sind, wurde ein lukrativer Grund erschlossen. Es scheint als müsste erst die Schrift kommen, um dem Haus den Boden zu eröffnen. Die Schrift wurde zwischen zwei Wänden eingebaut und dort für einige Jahre konserviert. Vor ihr erstreckt sich nichts mehr, sie wurde ihrer Räumlichkeit beraubt. Ausgehend von der Idee eines begrenzten Stadtzentrums, das für den Immobilienmarkt von Interesse sein kann, verdichtet sich die bebaute Fläche, um die Nutzbarkeit des begrenzten Raumes zu maximieren. Die Schrift ist bei der Entdeckung neuer Räume ein weiser Ratgeber, zeigt sie doch deutlich auf die Flächen, an denen ökonomische Aktivität noch potenziert werden kann. Die Fortsetzung dieser unautorisierten Schrift, die als machtloser Hinweis funktioniert, liegt in der Verschriftlichung der Baufläche durch Verträge. Der bürokratische Slang schafft eine zwingende Logik und unausweichliche Resultate.

Der Rückzugsbereich der Schrift wurde durch die immer stärker voranschreitende Bebauung maßgeblich minimiert, wodurch nur noch zwei Möglichkeiten übrig blieben: In den eigenen Körper expandieren oder in die Peripherie expandieren. (Peripherie wird auf Grund von Einfachheit nicht weiter erörtert.)

Die schriftliche Expansion nach innen

Ein aufschlussreicher Dialog:

Der aufgebrachte Bürger sagt zum klandestin Schreibenden: “Machst du das (was du draußen machst) auch bei dir zu Hause?“

Er: “Wo ist mein zu Hause? Ist eine Wohnung für die ich bezahle, die ich nicht verändern oder an jemanden anderes geben kann mein Zuhause? Ist die Wohnung meiner Eltern mein Zuhause? Ist dies der Ort an dem ich unabhängige Entscheidungen treffen kann? Vielleicht ist mein einziges Zuhause mein eigener Körper. Da kann ich machen was ich will. Also mache ich Graffiti in mir drin. Ich bombe in mir drin und ich male schöne Panels. Ich kratze in meine Lunge und schmiere meinen Darm voll. Ich tagge mein Gehirn und zerstöre mein Herz. Romantischer Vandalismus, aber in mir drin. Ich scratche meine Augen von innen, damit der Blick nach außen gefiltert wird. Meine Vorfahren stammen von den Vandalen ab, so wurden sie von den Römern bezeichnet. Sie müssen mir schon eine perfekte Graffitistadt in meinem Körper hinterlassen haben. Das städtische Erbe ist in einem drin, also kann man sich einfach von innen bomben. Ohne gesellschaftliche Konflikte und ohne juristische Konsequenzen. In einem drin ist der beste Untergrund. Die einzige Bahn, die nicht mal die Reinigungskraft sehen kann. Ganz ohne Ziften, ein wahres Schlaraffenland.“

Man könnte sagen: je weniger Spielraum der Lebensraum bietet, desto eher verlagern sich die alternativen Raum benötigende Aktivitäten nach innen. Der Körper wird zu einem Transportkörper, einem schwimmenden Traumschiff, bei dem das Versprechen gegeben wird, dass alles auf einem begrenzten Raum stattfinden kann, ohne von den Widrigkeiten der Außenwelt gestört zu werden. Die Costa Concordia kommt nur durch die innere Ablenkung zum kentern. Je dichter die Außenwelt abgeschottet wird, desto stärker kann sich dieser scheinbar alles beinhaltenden Welt hingegeben werden. Der Körper lässt sich durch Gedankenkonstrukte, Ideologien, Drogen abdichten, um das Bild nicht zu trüben. Der Konflikt muss nur noch im Innen ausgetragen werden.

Exkursionen in einen Körper aus Schrift

Ein wandelndes Archiv aus Fleisch und Muskeln in dem ein permanenter interner Textaustausch stattfindet, rennt vorbei, aber verhält sich regelkonform. Die gespeicherten Daten zirkulieren dauerhaft in dieser menschenförmigen Hülse und dieser Mensch weiß, dass es seine Aufgabe ist den Output perfekt zu steuern und nur das Nutzbare und Erträgliche nach Außen abzugeben. Opportunismus handelt nur von der Grenze zwischen dem bestehenden Informationsschatz und den artikulierten Produkten, die von der Umwelt verlangt werden, um die Bewegung weiterhin zu gewährleisten. Der undichte Mensch ist eine Gefahr und seine Ablagerungen werden ihm schaden. Die informativen Krusten, die sich im Fleisch gebildet haben, müssen perfekt versiegelt sein, um die sichtbare Oberfläche jeweils in idealer Weise erscheinen zu lassen und sie durch keine Kontaminationen und Reste zu stören. Das informative Antlitz, bestehend aus gesprochener Sprache, Schrift, sozialer Kompetenz und kulturellem Output, ist eine feingewebte und fragile Struktur, die permanente Pflege durch Updates und Positionswechsel erfordert, um in ihrer Außenwirkung bestehen zu können. Wie Delfine gleiten die wohlgeformten Informationswesen durch verschiedene Elemente und spüren durch ihre nützlichen Oberflächen nur geringen Widerstand. Der imaginäre Raum jedes Individuums wurde bereits vermessen und erschlossen. Je weitläufiger und vielseitiger der imaginäre Raum des Menschenkörpers ist, desto höhere Preise können auf dem Immobilienmarkt des inneren Raumes erzielt werden. Weiterhin ist der Quadratmeterpreis des menschlichen Innenraumes absolut abhängig von seiner Lage, also dem Körper, welcher ihn beherbergt. Der Körper, dieses mobile Volumen mit seinen Serverfarmen und den imaginären Räumen sind bereits Ort der Spekulation. Die gebombten Stellen im Innern der Körper werden zu Ködern für findige Immobilienhändler, die darin ein Entwicklungspotenzial sehen. Ganz so wie es die Hinterhöfe und Häuserlücken waren, die durch Graffiti sichtbar gemacht wurden. Wie im Stadtraum so wurde der Körperraum durch die verschriftlichten Konflikte für den Markt erschlossen. Die illegale Beschriftung bereite den Weg für den juristischen Text der Immobilienbranche. Aber wo endet der Körper, wo können die notwendigen Konflikte stattfinden wenn alles bereits vom Markt so innig umarmt wurde?

Irgendwann endet der Körper oder er breitet sich aus und vernetzt sich. In dem Moment wo alles in Zahlen verrechnet wurde, ist es Zeit die Geschichtenkabel neu zu verlegen. Vielleicht ist dies in Rudimenten bereits geschehen, dort auf den verwachsenen Hinterhöfen, da wo sich Paris und Belgrad oder Dresden und Prag trafen. Als man sich darum bemühte die Schrift zu verzahnen und unebene Wege einschlug. Vielleicht wurde ein Gedanke daran verschwendet, dass dies irgendwann nötig würde. Dass die Tunnel die Körper verknüpfen und die Texte ineinandergießen lassen. Irrsinnige Datenstrudel ziehen in diesem Gerüst, der mit Schienen, Tunneln und Straßen, Durchfahrten, Leitern und Brücken verbundenen Körper auf. Das diffuse und verstreute Graffitikartennetz war dann doch nur ein Bauplan für eine Kunstmafia der fleischgewordenen U-Bahnnetze. Getränkt in Internet wandelt das Netz aus Körpern in einer Umgebung aus Spekulationsblasen umher. Der Akt des Graffiti ist ein Akt der Spekulation. Es ist eine Spekulation deren anfängliche Ziele wie Sichtbarkeit, soziales Kapital sowie Innovationsgeist abhanden gekommen sind und die nur noch als Selbstzweck bestehen. Spekulation, als Notwendigkeit einer Situation ausgesetzt zu sein, bei der etwas passiert, bei der sich etwas entscheidet. Eine Zwang zur unmittelbaren Entscheidung. Ein beschleunigter Rausch der Entscheidung und der Gefahr. Das ist es, was stattfindet, wenn die Entscheidung fällt, dass gebaut wird. Das neue Siedlungen, architektonische Leuchtturmprojekte in der Innenstadt landen, der Mauerstreifen zum Boomgürtel wird. Mangels bestehender Entscheidungsmöglichkeiten ist die Spekulation maßgeblicher Lebenszweck. Wenn sich Kaufverträge, Tagnamen, Grundbucheinträge, Klingelschilder und mit der Bierflasche entstandene Scheibenkratzer zu einem Text vermengen, haben wir eine Ahnung davon, wie sich eine spekulative Schrift zusammensetzt.

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