Die neun Leben des Graffiti
Der Titel The Death of Graffiti1 lässt sich auch prosaisch verstehen, ganz ohne die metaphorische und literarische Bedeutung. Diese Vorgehensweise ist hilfreich, um einen Handlungszeitraum der beschriebenen Graffiti zu bestimmen. Wenn der Todeszeitpunkt von Graffiti attestiert werden kann, so müsste es in gleicher Weise möglich sein, die Geburtsstunde von Graffiti festzustellen. Dazu ist es unumgänglich den Terminus Graffiti zu definieren. Also welche Graffiti-Variante wird hier reflektiert?
Unter Berücksichtigung des Titels ist davon auszugehen, dass sich Kuhnert auf den Artikel The Death of Graffiti: Postmodernism and the New York City Subway von Claudia Barnett aus dem Jahr 1994 bezieht, in dem es um Graffiti auf den New Yorker U-Bahn-Waggons der 1970er Jahre geht, welches als klassisches Stylewriting2 bezeichnet wird.
Barnett beziffert den Todeszeitpunkt von Graffiti konkret im ersten Satz ihres Artikels: „New York City subway graffiti died in May of 1989, when the last graffiti-covered subway cars were retired, replaced by trains with paintproof surfaces“. Zu diesem Zeitpunkt wurden bereits mehrere Versuche unternommen die Außenflächen der New Yorker U-Bahn-Waggons komplett von Graffiti zu befreien.3 Dies geschah immer wieder vergeblich, obwohl bereits zur ersten Graffiti-Hochphase Anfang der 1970er Jahre aggressive Anti-Graffiti-Chemikalien wie DWR (Dirty World Remover) 4 speziell für den Buff 5 entwickelt wurden. Die New Yorker Graffiti-Künstler mussten durch die umfangreichen Buff-Strategien herbe Verluste verzeichnen, da ihr Schaffenswerk durch die Reinigung der Wagons nahezu komplett ausgelöscht wurde. So berichtet Blade: „In 1975 the whole transit system was buffed. I lost 2,000 cars maybe more. It was very painful and I was really upset, you couldn´t even comprehend the loss.“6 Eine Komplettreinigung des New Yorker U-Bahn-Systems und eine damit einhergehende Auslöschung des gesamten Subway-Graffiti war bereits zu diesem Zeitpunkt abzusehen. Der Handlungszeitraum dieser Graffiti-Variante, des Stylewritings, begann Anfang der 1970er Jahre als die Masterpiece-Ära die Single Hits-Ära7 ablöste. Der Auslöser für diese Wendung war die erste umfangreiche Reinigungsaktion der Metropolitan Transit Authority8 im Jahre 1973. Durch das Entfernen der unzähligen Tags, oder auch Single Hits, wurde Platz geschaffen für neue Graffiti.9 Laut Stay High ist damit eine Wende des Styles im Jahre 1973 auszumachen. Die Buchstaben wurden größer und ähnelten durch neu hinzugefügte Attribute wie Sterne, Pfeile oder Kronen, immer mehr ikonischen Schriftzügen10. Phase2 aus New York beschreibt die 1970er bis frühen 1980er Jahre als Ursprung für jegliche weitere Ausprägungen und Vorgehensweisen in der Umsetzung und Gestaltung von heutigem Graffiti.11 Eine vollständige Chronologie der New Yorker Subway-Graffitigeschichte kann in diesem Rahmen nicht geleistet werden. Dieser kurze Abriss ist jedoch notwendig um darzulegen, dass innerhalb des Zeitraums, in dem die Grundlagen für die ästhetische Formsprache sowie die „farbformalen Standards“12 entwickelt und etabliert wurden, Graffiti bereits mehrmals ‚dem Tod nahe‘ war.
Das erste Auslöschen alter Graffiti im Jahre 1973 auf den U-Bahn-Waggons brachte damals eine Weiterentwicklung der Styles mit sich, welche sich dann auf die Graffiti der gesamten Stadt ausweitete und im Laufe der Zeit in weitere Städte und Länder. Obgleich sich seit der Entstehungsphase die Techniken weiter- und neu entwickelt haben,13 hat sich nichts Grundlegendes verändert. Es geht nach wie vor darum, durch Gestaltungselemente, welche als Gesamtensemble in der Regel Buchstaben darstellen, einen Namen oder Wörter im öffentlichen Raum zu präsentieren. Der Geist der Entstehungszeit lebt also weiter, nicht nur als schemenhafte Ghost-Graffiti14 nach einem misslungenen Buff, sondern in alter wie auch neuer Gestalt in Form und Farbe auf der ganzen Welt.
In der Folge ergibt sich die Frage warum sich diese Konventionen offenbar bis heute bewährt haben? Existieren feste Gestaltungsregeln, welche die Formsprache von Graffiti bestimmen und gibt es eine allgemeine Erwartungshaltung oder eine kollektive Wahrnehmung, welche Inhalt und Form von Graffiti bestimmen? Es gilt hier nun herauszufinden, nach welchen Kriterien Graffiti beurteilt werden können. Um die ‚Schönheit‘ eines Graffito zu definieren, werden im Folgenden, anhand von Beispielen, ästhetische Aspekte von Graffiti genauer betrachtet.
Für diesen Versuch, wird eine bestimmte Graffiti-Variante ausgewählt. Deren gestalterische Ausprägung sollte konträr zu der des Stylewritings sein, damit eine Festlegung der Eigenschaften eindeutig erfolgen kann. Geeignet scheint hier die Damage-Line, auch Destroying Line, Buff-Line oder Panic-Line genannt. 15
Ich orientiere mich zunächst an einem Essay von Pierre Smolarski mit dem Titel Ein Versuch über die Linie – Graffiti zwischen Spielkultur und Ästhetisierungsprozess und die Linie als „Mythos im Werden“. Entgegen dem konventionellen Stylewriting ist die Linie durch ihre Einfachheit maßgeblich von anderen Graffiti-Varianten zu unterscheiden. Eine Vereinnahmung als Modephänomen ist durch ihr sperriges und unattraktives Aussehen unwahrscheinlich. Ihre einfache Linienführung lässt auf eine Autorenschaft einer einzelnen Person schließen, eine gestalterische Individualität ist nur im geringen Maße vorhanden, die karge, puristische Ausgestaltung der Linie steht im Vordergrund und damit das Schaffen selbst. Eine ausgiebige Gestaltung sowie eine klare textliche Bekundung fehlen, sie ist damit selbstreferentiell und will offenkundig ein leerer Signifikant sein. Eine eindeutige Zuordnung ähnlicher Damage-Lines zu einem einzelnen Urheber ist nahezu ausgeschlossen, und somit auch der Konkurrenzdruck und mögliche Feindseligkeiten zwischen den Protagonisten der Szene. Ich teile die Auffassung Smolarskis und Kuhnerts, dass die Graffiti-Variante des Stylewritings bereits vollkommen der „Verwertungslogik“16 des Urban-Lifestyles verfallen ist, in der die Form über den Inhalt siegt.17
Ich möchte diesen Gedanken noch weiter treiben und für eine Einfachheit des Graffiti plädieren, für pure Graffiti ohne Schnörkel, für ungekünstelte schöne Graffiti. Im Text Die Sache des Genies bringt Immanuel Kant diesen Aspekt im Kontext der Literatur auf den Punkt. Kant schreibt, „Wenn nun das Schöne lang gekünstelt ist, daß es gefallen soll; so ist es lächerlich, weil es zufällig ist. Man sollte die Bemühung aufs Gute verwendet haben. Das Schöne muß ungekünstelt sein, oder wenigstens muß es scheinen, nicht gekünstelt zu sein“18 des Weiteren schreibt er: „Alles ist angenehm, was keine Mühe scheint gekostet zu haben und von selbst entstanden zu sein scheint“19. Diese Leichtigkeit, ist in der Freiheit einer Destroying Line visuell manifestiert, sie scheint keine Mühe gekostet zu haben. Hingegen weisen aufwendige Masterpieces20 kaum eine Leichtigkeit vor. Sie entstehen oft in einem stundenlangen Prozess und sind durch ihren komplexen Aufbau in Form und Farbe aufwendig in der Planung. Effekte wie Highlights, Drips und Fadings werden immer wieder an den abstrakten Buchstabenformen vollzogen, bis der Blick auf das Wesentliche, die Buchstaben und das Schriftbild, nicht mehr frei ist. Die Ausarbeitung und das Ausfeilen der Details sind eine Art der Fleißarbeit und kosten sehr viel Mühe. Der banausischen Graffiti-Szene und allgemeinen Bevölkerung erscheinen jedoch genau diese Kriterien als ausschlaggebend für ‚gutes und schönes Graffiti'.
Warum gefällt diese aufwendige Variation des Graffiti den meisten Betrachtern besser als eine Destroying Line? Anhand Kants Kritik der Urteilskraft soll hier ein erster Anhaltspunkt für eine Antwort gesucht werden. „Niemand wird leichtlich einen Menschen von Geschmack dazu nötig finden, um an einer Zirkelgestalt mehr Wohlgefallen, als an einem kritzlichen Umriss, an einem gleichseitigen und gleicheckigen Viereck mehr, als an einem schiefen, ungleichseitigen, gleichsam verkrüppelten, zu finden; denn dazu gehört nur gemeiner Verstand und gar kein Geschmack“.21 Kant begründet diesen Verstand in Geschmacksurteilen durch die Suche nach einem Zweck in den Dingen. Das Wohlgefallen basiert demnach nicht unmittelbar auf dem Anblick einer Gestalt, sondern das Urteil über ein mögliches Wohlgefallen ist mit der implizierten Brauchbarkeit eines Gegenstandes verbunden. Eine Destroying Line ist schlicht nicht ‚brauchbar‘ und erfüllt augenscheinlich die Aufgabe einer Zerstörung. Dieser Sachverhalt erschließt sich auch dem Laien, doch wird Zerstörung in der Gesellschaft nicht mit einem sinnvollen Zweck assoziiert. Eine Destroying Line wird meist durch die Gestalt einer gekritzelten Linie umgesetzt. Sie missfällt im Gegensatz zu den geometrischen, symmetrischen, klaren und sauberen Linien eines Masterpieces, denn diese Gestaltungsmittel erfüllen augenscheinlich einen Zweck. Das üppige Ausschmücken von Buchstaben, um sie prachtvoll erscheinen zu lassen, gilt demnach als schön, eine Destroying Line wird hingegen als primitiv und anspruchslos empfunden. Dem nicht geschulten Graffitibetrachter scheinen die Aspekte der aufgeführten Privilegien einer Destroying Line gegenüber dem Stylewriting mit aller Wahrscheinlichkeit nicht unbedingt plausibel oder als Vorteil. Die meisten Protagonisten der Graffitiszene sehen diese Zusammenhänge dem Vernehmen nach genau so wenig.
Ich möchte zum Schluss nun etwas fantasieren und von der Linie auf den Punkt kommen. Eine Damage-Line ist nichts weiter als eine einfache Linie, welche entsteht, wenn mehrere Punkte aneinandergereiht werden. Der Punkt ist das grundlegende Element jeglicher Gestaltungsformen. Jeder lineare Ausdruck ist ein in Bewegung gesetzter Punkt. Dieser lineare Vorgang kann auch gedacht werden und bildet von einem Punkt zum nächsten Punkt eine imaginäre Linie. 22 Das Ergebnis einer konsequenten Abstraktion von der Damage-Line ist ein einzelner Punkt. Der fluchtartig herauskristallisierte Punkt steht hier metaphorisch als Repräsentant für eine mögliche ‚Neugeburt‘ von Graffiti, als Reset-Funktion und als neuer Startpunkt. Von ihm lassen sich sämtliche Neuausrichtungen denken.
Nachtrag:
Mit den bisherigen Graffiti-Konvention können wir eigentlich ganz zufrieden sein. Sie geben Orientierung und Halt. Für den Betrachter kann ein Graffiti wie eine Belohnung sein, wenn es eine Erwartungshaltung erfüllt. So ist es jedes Mal beeindruckend, wenn man ein Piece der I Love You Crew auf einem Güterzug sieht nachdem man sich erwartungsvoll gesehnt hat. Jedes einzelne gefundene IZM Tag bestätigt einem die Anwesenheit im Ruhrpott und schärft den Sinn für Raum und Zeit, so wie ein durch die Witterung verblichenes Zemack-Piece im Großraum Köln vertraute Erinnerungen an diese Stadt aufleben lässt. Der Kenner weiß selbst beim Strandurlaub in Zandvoort einen bemalten Schiffcontainer von Again zu schätzen. Selbst das kleinste Edding-Tag kann richtig Freude machen, wenn es von Ces53 auf dem Pier von Scheveningen ist. Diese Beispiele aus meiner vergangenen Woche zeigen, dass das Aufspüren von Graffiti an Touristenspots und entlegenen Orten zwar ein wenig den Pioniergeist zerstört, aber gleichfalls ein Gefühl von Sicherheit mit sich bringt und zeigt, dass die Welt noch ein Stück in Ordnung ist. Als friedvoller Graffiti-Veteran kann man sich entspannt zurücklehnen und Styles kommen und gehen sehen, weil man weiß, dass die überstrapazierte Naivität in den Hipster-Styles nicht bodenständig ist und sich auf Dauer nicht behaupten wird. Alles in allem macht es nach Jahrzehnten immer noch Spaß das Treiben der Graffitiszene zu beobachten. Ein schönes Hobby und ein schöner Zeitvertreib. Und sollte das Ganze zu irgendeinem Zeitpunkt zu langweilig oder gar leblos erscheinen, dann kann man immer noch selbst zur Sprühdose greifen und was„wirklich“ Neues kreieren bevor Graffiti dem Tod wieder einmal nahe sein sollte.
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1982 betitelte Lady Pink eine ihrer Leinwandarbeiten mit The Death of Graffiti. ↩
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Ein Stylewriting-Piece (Bild) besteht aus außergewöhnlich ästhetisierten Buchstaben, die zusammen ein abstraktes Schriftbild formen, dieses wird meist durch eine komplexe Ausgestaltung der Farbflächen und des Hintergrundes ergänzt. ↩
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Bereits zwei Jahre nachdem der erste Ansturm auf die Außenflächen der U-Bahn Waggons begonnen hatte, veranlasste Major John Lindsay im Jahre 1973 die ersten Reinigungen, Quelle: Gastman & Caleb (2010): The History of American Graffiti. New York: Harper Design S. 86. ↩
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DWR wurde durch den Chemiker Edmund Dragza entwickelt, Quelle: Stewart, Jack (2009): Graffiti Kings – New York Transit Art of the 1970s. New York: Abrams inc. S. 31 ↩
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Im Graffiti-Jargon bedeutet „Buff“ das Reinigen von Graffiti-Bildern. Ursprünglich kommt diese Bezeichnung aus New York. Die Bahn-Waggons wurden in den 1970er Jahren sauber poliert. ↩
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Fleisher & Iovino (2012): Classic Hits – New York´s pioneering Subway Graffiti Writers. Arsta (Sweden): Dokument Press S. 31 ↩
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Fleisher & Iovino (2012): Classic Hits – New York´s pioneering Subway Graffiti Writers. Arsta (Sweden): Dokument Press S. 11/ 19 ↩
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Metropolitan Transit Authority, kurz MTA, staatliches Verkehrsunternehmen des US-Bundesstaats New York ↩
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Thompson, Margo (2009): American Graffiti. Parkstone Press International. New York S. 32 ↩
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Gastman & Caleb (2010): The History of American Graffiti. New York: Harper Design S. 74 ↩
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Fleisher & Iovino (2012): Classic Hits – New York´s pioneering Subway Graffiti Writers. Arsta (Sweden): Dokument Press S. 9 ↩
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Kuhnert, The Death of Graffiti (2015), These 3 ↩
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Es gibt mittlerweile unzählige technische und stilistische Varianten und Erneuerungen in der Graffiti-Szene, welche sich nach und nach behaupten, wie zum Beispiel Extinguisher-Graffiti, Drone-Graffiti, Cellograff, Laser-Tagging, Calligraffiti, uvm. ↩
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Ghost-Graffiti sind ein sehr interessantes Phänomen, welches entsteht wenn Graffiti nicht gänzlich entfernt werden und schemenhaft auf einem Untergrund weiterhin erkennbar sind. Oftmals entsteht durch den Eingriff der missglückten Reinigung ein neues Bild. ↩
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Eine Destroying Line ist eine einfache, horizontale, gesprayte Linie die mit einer Spraydose entlang einer Fläche gesprüht wird. Sie wird im Vorbeigehen an einer Wand frei Hand gesprüht. Oftmals wird durch eine vertikale Bewegung der Spraydose eine wellenförmige Linie erzeugt. Auf Zügen und U-Bahnen sind Destroying Lines ebenfalls vorzufinden. In diesem Fall fährt die zu besprühende Fläche am stehenden Sprayer vorbei, welcher die Farbe auf den Untergrund sprüht. Diese Variante des Graffitis zielt alleine darauf ab, viel Fläche effektiv mit wenig Farbe zu versehen. ↩
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Smolarski, Pierre (2011): Was ist Graffiti. In: Beuten, Ralf; Smolarski, Pierre (Hg): Ein Versuch über die Linie- Graffiti zwischen Spielkultur und Ästhetisierungsprozess und die Linie als „Mythos im Werden“. Würzburg: Königshausen & Neumann. S. 60 Ebd., ↩
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Ebd., S. 55 - 64 ↩
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Kant, Immanuel (1966): Die Sache des Genies. Vorlesungen über Logik. In: Macho, Thomas (Hg) (2007): Arbeitstexte für den Unterricht – Ästhetik. Stuttgart: S. 31 ↩
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Kant, Immanuel (1966): Die Sache des Genies. Vorlesungen über Logik. In: Macho, Thomas (Hg) (2007): Arbeitstexte für den Unterricht – Ästhetik. Stuttgart: S. 31a ↩
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Hier sind explizit Full Color Masterpieces gemeint, welche mit möglichst vielen Farbtönen und einer möglichst großen Effekt-Palette realisiert werden. ↩
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Kant, Immanuel (1963): Kritik der Urteilskraft - Kapitel 22, Tractate . Philipp Reclam jun. S. 325 ↩
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Frutiger, Adrian (2006, Die Erstausgabe erschien 1979): Der Mensch und seine Zeichen, Marix Verlag, Wiesbaden. S. 15 ↩
An dieser Stelle können Aspekte des obenstehenden Textes kommentiert werden. Solltest du eine ausführlichere Replik auf den Originaltext von Oliver Kuhnert einsenden wollen, bitten wir dich, diese an hello@possible-books zu verschicken.
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