Graffiti als schlauer Idiot
Eine junge, nackte Frau, ihr langes Haar vom Wind sinnlich zerweht, steht auf einem Berg von Sprühdosen. Als Rückenfigur schaut sie hinab in die Weite einer großstädtischen Brache; an deren Ende eine zerklüftete Landschaft alter Backsteinmietshäuser. Ihr Blick geht zu einer rostigen High Line, auf der eine New Yorker U-Bahn vorüberrattert. Auf dem vorderen der beiden Waggons fahren zwei bunte Panels, samt einem Manga-Mädchen als Character. Die Nackte auf dem Berg aber hebt ihren linken Arm und weist auf den hinteren Waggon: Nicht dreckig grau und zugebombt wie der erste fährt der vorüber, sondern vollkommen weiß, strahlend, makellos. Eine seltsame Beziehung: zwischen blickender Frau und zurückblickendem Manga-Mädchen, zwischen makellosem Frauenkörper und makellosem Waggon, zwischen diesem Waggon und dem Berg Dosen, auf dem wiederum die Nackte wie eine Feldherrin steht. Entschlossen zur Attacke wirkt sie aber nicht, eher etwas peinlich berührt, so nackig da oben im Wind. Und über all dem ein bedrohlicher, mystisch roter Himmel.
So also haben wir ihn uns vorzustellen, den Tod des Graffiti. Zumindest stellt ihn uns Lady Pink so vor Augen, in Acryl auf Holzfaserplatte, gemalt 1982, mit ihrem Tag Pink signiert, der Titel The Death of Graffiti gut lesbar in der unteren Ecke. Heute hängt das Bild im Stadtmuseum von New York, wo es als Teil der Sammlung Martin Wong gewissermaßen die Antike des Graffiti repräsentiert. Damals, am Ende dieser Antike, war Writing schon kein Mysterium mehr, sondern längst ein notorisches Medienphänomen, ein Politikum, verursacht von einer hochaktiven Szene hunderter Maler, denen schon Bürgermeister Lindsay den War on Graffiti erklärt hatte, und die nun gerade von einigen Kunsthändlern als nächstes großes Ding gefeiert wurden. Pink biografisierte ihr Bild später: Sie habe sich selbst dort dargestellt – mehrfach, wie man ergänzen kann, denn der bemalte Waggon trägt natürlich ihr eigenes Piece (das zweite ist von Seen), und auch an einer Mauer ist ein Bombing von ihr zu sehen. Paradox dieses Bild, im detailreichen Modus des American Realism sauber mit Pinsel und Marker zur Allegorie ausgestaltet, um in einer Galerie, den Räumen einer Privatsammlung oder nun eben im Stadtmuseum diesen Overkill an Straße zu zeigen. Was genau ist hier der Death of Graffiti, wenn wir vor dem Bild stehen: Sieht die Nackte ihn vor sich oder haben wir ihn vor uns? Hatte ihn Lady Pink mit ihrem Rückgriff auf das traditionelle künstlerische Format des figurativen Staffeleibilds vielleicht schon überwunden?
Das sei erst einmal dahingestellt. Sicher ist, dass Graffiti in seiner noch kurzen Geschichte schon viele „Tode“ gestorben ist. Zum Beispiel am Ende desselben Jahrzehnts, als die MTA den 12. Mai 1989 zum Symboldatum erklärte, den letzten bemalten Zug aus dem Netz holte und das System für sauber erklärte. Mitte der 1970er Jahre, so hielt Craig Castleman fest, hätten Blade und Lee den Tod des Graffiti befürchtet, als sich das massenhafte Famebombing mit Throw Ups gegenüber aufwändigen Whole Cars zu verbreiten begann. Eine Todeserklärung anderer Art findet sich in Tony Silvers und Henry Chalfants Style Wars von 1983, der das Rausziehen der weiß überlackierten Züge aus dem Yard mit Wagner unterlegt. Der fast hysterische War on Graffiti und die Einführung der automatischen Buff-Anlage nach der Mitte der 70er Jahre hatten bei den Malern Spuren hinterlassen: Schon 1980 fragte sich Lee abermals, nun auf einem Wholecar, „if Graffiti will ever last?“, und Seen antwortete zwei Jahre darauf mit einer bildlichen Todeserklärung, seinem Graffiti-died-Wholecar. Aus diesem verbreiteten Endzeitgefühl unter den illegalen Writern speiste sich auch Pinks Gemälde, und es ist vielleicht kein Zufall, dass sie sich bei eben jenen Akteuren findet, die zur selben Zeit mit Graffiti-Leinwänden in kommerziellen Galerien Erfolg hatten und in den meisten Fällen das eine gegen das andere eintauschten. Besonders mit Sidney Janis‘ Ausstellung Post-Graffiti 1983 (auf der natürlich auch Pink vertreten war) verband sich die Behauptung, dass Graffiti nun eine legitime Kunst-Bewegung unter anderen sei, die als nächsthöhere Stufe das überwand und obsolet machte, was ihr auf den Subways und Straßen vorangegangen war. Genau besehen blieben dabei das Straßenphänomen und das Kunstphänomen auf eine sehr charakteristische Weise miteinander verwoben: Einerseits adaptierten die Writer die konservativsten Formatierungen von Hochkunst, handgemachte Malerei auf beweglichen Leinwänden. Das allein war schon 1983 in Kunstkreisen Anlass genug, die Bewegung für tot zu erklären, wie eine Besprechung von Post-Graffiti in der New York Times damals berichtete. Die hier gezeigten Arbeiten sahen auch oft deutlich anders aus als die Pieces, die auf der Straße und am Zug produziert worden waren; Arbeit mit und an Schrift wurde hier tendenziell figurativen malerischen Ausarbeitungen untergeordnet, die zwischen populärkulturellen Formvokabularen von Comic oder Werbegrafik und solchen abstrakter Malerei pendelten. Andererseits sollten und konnten diese Leinwände dennoch nicht für sich stehen; die Verbindung zur Szene auf der Straße wurde in Kommentaren und durch dokumentarische Fotografien in der Ausstellung abgesichert und beglaubigt. Verkauft wurden zwar individuelle Arbeiten, die aber für die Kunstwelt kaum mehr waren als bloße Träger des symbolischen Kapitals der Straßenbewegung. Dass Graffiti hier schon den Kunsthändlern und Sammlern von Manhattan als ein Verkaufsargument dienen konnte, obwohl doch zeitgleich der War on Graffiti tobte, macht eines deutlich: Der korrupte Zustand vielseitiger Instrumentalisierbarkeit und Affirmativität von Graffiti, den O.K. in seiner Polemik anklagt, ist historisch sehr früh eingetreten; noch bevor Graffiti seine inzwischen fast globale Erfolgsgeschichte begann. Vielleicht hat es nie einen anderen gegeben.
Es ist aber auffällig und aufschlussreich, dass sich in seiner ansonsten breit aufgestellten Kritik eine Sell-Out-Kritik mit Bezug auf den Transfer von Graffiti in Kunsträume nicht explizit findet, so verbreitet und naheliegend diese auch wäre. Vielleicht, weil es heute nicht Graffiti, sondern die Street Art ist, die von der Aura und dem symbolischen Kapital der Straße profitiert, und durch deren eifersüchtiges, alternativloses Anwärterverhältnis zur richtigen Kunst und deren Institutionen eine solche Kritik sich ohnehin erübrigt. Es sind aber auch andere Gründe für diese Toleranzzone im ansonsten wenig nachgiebigen Rundumschlag denkbar. An mehreren Stellen formuliert der Text von O.K. nämlich Ansprüche an Graffiti, die aus den Diskursen künstlerischer Bewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts allzu vertraut erscheinen. Was hier als „genuin ästhetischer Ansatz“ den Malern zum „Idealbild“ empfohlen wird, versucht O.K.s radikale politische Hoffnungen (konkret: Macht- und Besitzverhältnisse infrage stellen; eine Logik jenseits kapitalistischer Akkumulation und egoistischem Karrierismus; eine Subversion der konsumgesellschaftlichen Öffentlichkeitsmodelle) zu verbinden mit Vorstellungen eines linearen künstlerischen Fortschritts und autonomer, originärer Schöpfung – nur eben bezogen auf Graffiti und dessen Material, den schriftlichen Namen. Es war vor allem die Kunst der klassischen Moderne, die einen vergleichbar emphatischen Kult des Neuen um seiner selbst Willen und autonome Kreativität zum obersten Zweck erklärt hatte und zu deren wichtigsten Denkfiguren folglich der Bruch, die Todeserklärung, der radikale Neubeginn zählte. Nicht dass es damit in der Kunst grundsätzlich vorbei wäre, aber zu den wesentlichen Problemen der Kunst des 20. Jahrhunderts und insbesondere ebenjener Jahrzehnte, in denen Graffiti groß wurde, gehörte die Kritik, die Verabschiedung oder das kritische Bearbeiten dieser Denkfiguren und der mit ihnen assoziierten künstlerischen Strategien. Mit der Montage vorgefundener Illustriertenfotos und Textfragmenten hatten die Dadaisten den Kult künstlerischer Schöpfung und individuellen Ausdrucks attackiert und, wie wenige Jahre zuvor die kubistische Collage, den Fetisch des Gemäldes mit niederen Materialien zu profanieren versucht. Duchamps Readymades verschoben den kreativen Akt auf das Auffinden und Installieren von industriell gerfertigten Konsumobjekten, auf Konzept statt Herstellung; wobei solche Verwandlungen in Kunst sehr nachhaltig die Aufmerksamkeit auf die Institutionen der Kunst selbst lenkte. Die surrealistische Écriture automatique wiederum bearbeitete das Problem der künstlerischen Idee durch Einsatz von Zufallsprozessen. Zu den wichtigsten Entwicklungen der amerikanischen Nachkriegskunst ist schließlich jene Dynamik geworden, die am Ende der 50er Jahre solche antikünstlerischen und kritischen Strategien des Vorkriegseuropa aufnahm und zu den bis heute einflussreichen künstlerischen Modellen der Pop Art, der Konzeptkunst bis hin zur Institutional Critique und Appropriation Art der 1980er Jahre weiterentwickelte; dies aber stets in klarer Opposition zu den Verfahren und Konzepten expressiver Malerei, zu Personalstil, zum Fetisch des handgemachten Kunstwerks und handwerklicher Meisterschaft, zu naiv verstandener Originalität als Gegenpol zu bloßer Wiederholung.
Man könnte dem Text O.K.s nun vorhalten, sich in seiner Kritik von Graffiti an einem recht konservativen Kunstbegriff zu bedienen, wenn er etwa gegen Wiederholungen das Ideal der Schöpfung anruft oder die autonome Geltung des Einzelwerks gegenüber vervielfachter Produktivität einfordert. Diesen Abgleich überhaupt vorzunehmen ist nicht darum interessant, um dem Text Momente von Konservatismus oder innere Widersprüchlichkeit vorzuwerfen. Immerhin handelt es sich um einen Text, der sich ausdrücklich auf Graffiti, nicht explizit auf Kunst bezieht. Es hieße genau jene Grenze zu überspielen und unsichtbar zu machen, die man unterstreichen und genauer in den Blick nehmen sollte: die Unterschiedlichkeit von Graffiti und Kunst. Die Antwort auf die Frage, was nach dem Tod von Graffiti kommen könne, darf keinesfalls wieder lauten: Kunst.
Wenn man das Auge entlang der S-Bahnstrecken schweifen lässt, kommt man sicherlich nicht oft auf die Idee, beides zu verwechseln; aber man urteilt ja auch nicht im Zahnarztwartezimmer oder auf dem Hotelflur über die Kunst im Ganzen. Die Präsenz von Graffiti in großen kommerziellen Galerien ist ein Phänomen, das auf die 1980er Jahre beschränkt geblieben ist. Teil dieses Phänomens waren zunächst noch die erfolgreichen Ausnahmen Basquiat, Scharf oder Haring, die bezeichnenderweise höchstens am Rande mit der Szene auf den Straßen oder in den Yards zu tun hatten und sich später bisweilen umständlich distanzierten. Graffiti, so kann man nach Jahrzehnten sagen, ist keine Kunstbewegung unter anderen geworden. Trotz einer über die Jahrzehnte recht konstanten Zahl an Ausstellungen führt Graffiti ein Dasein am Rande der Kunst – ein historisches Alleinstellungsmerkmal, denn vergleichbare populärkünstlerische Phänome, die Fotomontage oder die Fotografie, brachten es irgendwann doch zur akzeptierten künstlerischen Technik. Graffiti dagegen hatte sehr schnell ein komplexes, eigenes Leben, und im Ergebnis führt kein Überblickswerk über die Kunst des 20. Jahrhunderts Graffiti auf. Kunsthistorische Lexika führen manchmal einen knappen Eintrag, der dann von Pompeij bis New York reicht. Die Basis für die meisten der heute existenten Sammlungen bildete noch der kurze Boom in den 80ern.
Dieser war jedenfalls weniger das Ergebnis des kuratorischen Wagemuts des kommerziellen Galerieestablishments von New York, das sich kurzentschlossen die Straße ins Haus geholt hätte. Graffiti hatte bereits eine jahrelange Vorgeschichte in den alternativen Kunsträumen der Stadt; also paradoxerweise jenen Subfeldern der Kunstszene, die dezidiert in der neoavantgardistischen Traditionslinie standen und für die Pop Art, mit der Sidney Janis noch für Graffiti zu werben versuchte, zum Establishment gehörte.
Diese Vorgeschichte begann schon 1972, wenn auch noch unter ganz anderen Vorzeichen. Es waren staatlich unterstützte, sozialpädagogische Integrationsprojekte wie die United Graffiti Artists oder später die Nation of Graffiti Artists, die im Rahmen von Stadtteilarbeit Writer versammelten und erste Ausstellungen organisierten. Leinwandverkäufe und Aufträge sollten die kreativen Energien der jugendlichen Writer weg von den Subways und in legale Bahnen lenken. Die UGA etwa waren keineswegs eine selbstorganisierte Gruppe, sondern von einem zwielichtigen Sozialarbeiter angeleitet und mit klaren Regeln hierarchisch organisiert. Aber solche Gruppen boten zugleich die Möglichkeit, Förderung und Spenden zu beziehen, um Materialien oder Räumlichkeiten zu finanzieren; die Chancen und Ressourcen, die sie für die jugendlichen und teils bitterarmen Writer boten, waren echt. Die UGA stellte erstmalig 1972 an der Kunst-Fakultät des New Yorker City College in Harlem aus, dann 1973 in der Razor Gallery in SoHo und zwei Jahre darauf im Kunstraum Artists Space. Es ist also durchaus berechtigt zu sagen, dass die früheste Verknüpfung von Graffiti und Kunst im engeren Sinne, die Übertragung auf mobile, verkäufliche Bildträger und in Ausstellungsräume, im Zeichen sozialpädagogischer Armuts- und Kriminalitätsbekämpfung stattfand. Die wilde Ausbreitung der Namen in sozial definierte und klar umgrenzte Formate kultureller Produktivität zu transformieren, muss man im Lichte so grundsätzlicher politischer Ansprüche, wie sie O.K. formuliert, wohl als Korrumpierung begreifen. Es ist nur wichtig zu sehen, wie früh solche gesellschaftlichen Integrationsprozesse eingetreten sind, wie bedingt und prekär das subversive Potential des Writing schon immer war.
Aber dass die Writer begonnen hatten, Leinwände in Galerien auszustellen, das heißt, die konventionellsten Gattungen und Institutionen der bildenden Kunst zu adaptieren, bezeugt weniger die künstlerische Validität und Legitimität ihrer Arbeiten oder eine Anschlussfähigkeit an kunstkritische Diskurse jener Jahre als beinahe das genaue Gegenteil. Allein auf motivischer Ebene lassen sich noch viele Pieces mit den Bezügen der Pop Art auf die visuelle Kultur der westlichen Medien- und Konsumgesellschaft in Verbindung bringen, aber anders als die Pop-Künstler 15 Jahre vor ihnen ist bei den Writern Werbung, Grafikdesign, Tattoo oder Comic weniger eine distanzierte, profanierende Geste, sondern ungebrochene Verarbeitung der eigenen Lebenswelt. Sie beriefen sich dabei affirmativ auf ebenjene Kategorien, die neoavantgardistische künstlerische Modelle zu verabschieden versucht hatten: individuellen Stil, formale Originalität, subjektiven Ausdruck, handgemachte Malerei, handwerkliche Meisterschaft. Noch viel weniger ließe sich irgendein Reflex dessen ausmachen, was aus heutiger Sicht das bedeutsamste Erbe der amerikanischen Kunst der 1970er ist, die vielfältigen postminimalistischen, postkonzeptualistischen oder performativen künstlerischen Strategien, die Installationen, Fotografie, Texte, Objekte und Videobildschirme in die Kunsträume brachten.
Umso interessanter wird natürlich der Umstand, dass Kunstinstitutionen wie Artists Space ihre Türen für Graffiti öffneten. Je mehr Aufregung die gebombten Subways in der städtischen Öffentlichkeit erregten, desto interessanter wurde die Bewegung für diese gerade entstehende, alternative Kunstzene der Stadt. 1972 als Nonprofit-Kunstraum gegründet, in dem junge Künstler/innen jenseits der etablierten großen Museen und kommerziellen Galerien ausstellen konnten bzw. selbst kuratierten; finanziert v. a. durch neue öffentliche Förderprogramme. Hier und an vergleichbaren Orten wie The Kitchen, P.S.1, 112 Greene Street oder dem New Museum berührten sich die neoavantgardistischen Tendenzen innerhalb der Kunst mit der spontanen Dynamik und subversiven Energie einer neuen Nicht-Kunst, die nicht von Kunsthochschulen, sondern von den New Yorker Arbeiter- und Armenvierteln ausging. Die Ansätze künstlerischer Kritik am Museum als Ort exklusiver Kanonisierung, des Kunstwerks als Fetisch und Ware, am Kunstbetrieb als kulturindustriellem Spektakel konnten etwas von ihren Sehnsüchten im Phänomen Graffiti wiedererkennen, obwohl es so offensichtlich gegen viele ihrer Annahmen und Regeln verstieß. Dass Graffiti in sich hierarchisch und seinem Zweck nach egoistisch war, wurde auch damals schon klar gesehen. Beim Kunstkritiker Peter Schjeldahl, der einen Text für das kleine Katalogheft zur Ausstellung verfasste, fand die „elitist and egocentric new form of expression“ gerade deshalb Anerkennung, weil sie Kunsttheorien oder antielitären Prinzipien nicht gehorche und stilistische Individualität zum absoluten Zweck erhebe. Er fand auch in den Leinwänden die Vitalität der Straße und eine enge Verbindung zu der Autonomie des kriminellen Regelbruchs; eine eher romantische Sicht, die mehr über den Kritiker und etwas über die Denkweisen der liberalen Kunstkritik als über die ausgestellten Bilder verrät.
Aber auch zahlreiche Künstler/innen hatten Konsequenzen aus den kritischen Impulsen der Avantgarden gezogen und die Straße zum Aktionsfeld ihrer Kunst gemacht, um die (klassen-) spezifische Öffentlichkeit und die strukturellen Voraussetzungen der Kunstinstitutionen zu problematisieren. 1973, zur Zeit der ersten UGA-Ausstellungen, hatte etwa Gordon Matta-Clark direkt auf das virale Phänomen der Tags und Pieces Bezug genommen, da sie für ihn auch das utopische Moment einer freien, demokratischen Kreativität jenseits der elitären Schwellen des Kunstbetriebs verkörperten. Er versuchte in eigenen Arbeiten Graffiti in Kunsträume zu importieren, vermied dabei allerdings die naheliegende Möglichkeit, einfach selbst zu sprühen. In seinen Photoglyphs kolorierte er auf Schwarzweißfotos graffitiübersähter Wände und Subways die Schriftzüge mittels Paintbrush nach. Diese Wiederholungen verzichteten bewusst auf eigene formale Erfindung; sie stellten weniger eine Aneignung als eine Geste der Identifizierung mit der Straßenbewegung dar. Nach der Ablehnung seiner Photoglyphs auf der Washington Square Art Fair im gleichen Jahr ging Matta-Clark noch weiter, indem er seinen Lieferwagen in der Bronx von Anwohner/innen besprühen ließ und ausgetrennte Wagenteile dann als Objekte verkaufte. Seine Fotoarbeiten konnte er später im Jahr bei 112 Greene Street zeigen.
Matta-Clark arbeitete seit Beginn der 70er wie viele andere Künstler/innen selbst im öffentlichen Raum, wobei er durch Fotografien und Relikte, etwa seine architektonischen Extraktionen, die Vermittlung in Kunsträume sicherstellte. Ein anderes Beispiel für solch zweigleisige Praxis auf der Straße und in der Galerie sind Daniel Burens Affichages, auf Papier gedruckte Streifenelemente, die er zuerst 1969 in Paris begann auf Plakaten, Stadtmöbel, in der U-Bahn oder auf Architekturelementen anzubringen. Diese ortsspezifischen Arbeiten nahmen gezielt Bezug auf ihre Stelle, an der sie verdeckten, betonten, imitierten oder umrahmten. Fotos seiner Arbeiten in Manhattan von 1970 zeigen noch keine Graffiti. Aber Buren wählte damals und später ähnliche Träger wie die Writer, darunter auch Busse oder, 1980 als Ausstellung im Art Institute Chicago, Züge, deren beklebte Türen durch ein Fenster des Museums betrachtet werden konnten (sobald sie eben vorbeifuhren). Während Buren vor allem Probleme der Malerei verhandelte, standen Jenny Holzers frühe Arbeiten auf der Straße eher im Problemhorizont konzeptualistischer Verhandlungen von Sprache und Diskurs. Ihre Truisms, ab 1979 auf kleine Offset-Plakate gedruckte Aphorismen, Postulate, politische Slogans waren dabei in sich oft widersprüchlich in ihren imperativen Aussagen und implizierten Perspektiven und stellten so, ganz im Unterschied etwa zu den frühen Samo-Sätzen Basquiats, die Frage nach Autorschaft und Autorität der städtischen Zeichenregimes auf eine Weise, die sich nicht auf ein einzelnes Autor-Ich bündeln ließ (und damit, wie im Falle Samos, in einem Zeitungsartikel aufzulösen gewesen wäre).
Es ist klar, dass die Fragestellungen und Probleme, die auf Kunstseite zum zeitweiligen Verlassen der Kunsträume, zur Arbeit in situ, zur Nutzung nichtkünstlerischer Mittel führten, grundsätzlich andere waren als jene, die Writer ihren Platz in der Straßenöffentlichkeit beanspruchen ließ. Das Verhältnis beider Seiten zum öffentlichen Raum muss man als diametral entgegengesetzt ansehen: Für die einen war es ein antielitäres Mittel, um die institutionellen Rahmen von Kunst bewusstmachen und die semiotischen Formate städtischer Kommunikation zum Thema machen zu können; für die anderen war es die einzig verfügbare Form von Publizität, die das Funktionieren des Spiels gewährleisten konnte. Das Ergebnis war dementsprechend konträr: Die einen wollten über die Galerien hinaus, die anderen hinein.
Als um 1980 schließlich der Reigen der Graffiti-Ausstellungen einsetzte, hatte sich deren Charakter durch die Vernetzung und den Austausch mit der alternativen Kunstszene New Yorks bereits grundlegend gewandelt. Während die UGA noch unter Schwierigkeiten nach Ausstellungsorten suchen mussten, boten sich nun im Zeichen demokratischer, partizipativer Kunstprojekte deutlich mehr solcher Gelegenheiten. Sämtliche der oben genannten alternativen Kunsträume hatten in jenen Jahren mindestens eine Grafftitishow. Fashion Moda in der South Bronx war aber, nicht nur topografisch, ein paradigmatischer Ort dieser Entwicklung. Hier kamen über Jahre zahlreiche Künstler/innen gleichberechtigt mit den lokalen Writern zusammen; hier trafen sich die erste Generation der Galerie-Sprüher von UGA, die zweite der üblichen Verdächtigen von Fab 5, Lee, Crash, Futura, Daze, die Kunst-Leute Haring, Scharf, Basquiat. Kunst wurde hier als politisierte Praxis verstanden, bei der es gerade nicht mehr allein auf das einzelne, für sich stehende Kunstwerk ankam, sondern auf den Prozess (kollaborativer) Herstellung, auf alternative, nichtkommerzielle Distributionsformen von Kunst, auf neue Publika und Modelle von Öffentlichkeit. Eine beispiellose Breite von künstlerischen und bewusst antikünstlerischen Techniken und Medien, von Fotokopien bis Fernsehausstrahlungen, war hier präsent. Fashion Moda bot Leuten wie Jenny Holzer oder Lady Pink gleichermaßen Einzelausstellungen, unternahm aber auch in der retrospektiven Gruppenausstellung Graffiti Art Success for America 1980 erstmals den Versuch, eine frühe Graffitigeschichte zu zeigen. Das Künstlerkollektiv Colab, dem Leute wie Holzer, John und Charlie Ahearn oder der Fashion-Moda-Gründer Stefan Eins angehörten, war Teil dieses Netzwerks. Bei der von Colab organisierten Times Square Show im selben Jahr nahmen folglich mehrere Writer teil, einer Großausstellung der New Yorker Alternativszene in einem leerstehenden Massagesalon nahe Times Square, die zu einem weithin beachteten Ereignis wurde.
Die Vernetzungen, die sich in diesem Milieu ergaben, gingen in sehr verschiedene Richtungen. Einerseits waren sich Graffiti, Kunst und Politik nie so nahe wie hier, andererseits weitete sich Graffiti mit diesen Ressourcen bis in die kommerzielle Kunstszene und in kulturindustrielle Formate wie Kinofilme aus. Über Fashion Moda kamen Lee und Basquiat 1982 zur Documenta 7 nach Kassel; Charlie Ahearns bei Colab genutzte Filmskills ermöglichten Style Wars. Die Ausstellungen im New Museum, im Mudd Club, im PS.1 oder White Columns weckten den Appetit der kommerziellen Galerien wie Barbara Gladstone, Tony Shafrazi oder Sidney Janis; sie öffneten die Türen europäischer Museen, und die prominente Szene von Galerie-Writern ließ kommerzielle Gelegenheitsgalerien wie Patti Astors Fun Gallery entstehen. Den Writern lagen am Ende, so kann man heute zusammenfassen, die alternative Kunstszene und deren politkünstlerische Konzepte deutlich weniger am Herzen als umgekehrt. Die breiten Produktions- und Publikationsmittel, die nun einigen Writern zur Verfügung standen, führten zu einer Anpassung an die Regeln des kommerziellen Kunstmarkts und der kulturindustriellen Vermarktung, die bis heute in der absurden Folklore des Graffiti-Merchandise zu erleben ist.
Auf der Graffiti-Ausstellung Rapid Enamel 1984 in der Renaissance Society Chicago stellte Pink ein Gemälde aus, auf dem Holzer eine Zeile ihrer Straßentexte eingefügt hatte: The Breakdown comes when you stop controlling yourself and want the release of a bloodbath, so zugleich der Titel der Arbeit. Pink malte abermals eine spärlich bekleidete Frau; diesmal im Stil einfacher Comicgrafik mit Sprühdose. Eine Dschungel-Sirene im knappen Leopardenkleid, die mit zombiehafter Gebärde den Betrachtern entgegenkommt. Der Berg, über den sie hinwegsteigt, besteht diesmal aus Totenschädeln, aber auch diese Figur ist in ein Yard gebombter Subways versetzt, das hier als verlockend wilde Todeszone imaginiert ist. Die Arbeit ist ein Beispiel der produktivsten Momente im Graffiti-Kunstverhältnis um 1980. Zwei Künstlerinnen, die eine lateinamerikanische Künstlerin aus Queens, die andere eine weiße, zugezogene Kunstabsolventin, arbeiteten zusammen an einem Werk. Graffiti war und ist ein Spiel, das soziale Grenzen flüssig, Begegnungen möglich macht. Aber die Arbeit hält auch, unfreiwillig, die Grenzen solcher Verflüssigungen fest. Pink stellt ihre figurativen Studio-Malereien bis heute in kleinen Galerien aus, während Jenny Holzer seit ihrer Beteiligung an der Times Square Show mit postkonzeptuellen Arbeiten im öffentlichen Raum Kunstgeschichte geschrieben hat. Die Vermischungen und Austauschprozesse blieben durchzogen von den gesellschaftlichen Widersprüchen. Ein obdachloser weißer Jugendlicher wie Iz the Wiz hatte nicht das nötige soziale und kulturelle Kapital, sich in der Welt der Galerien, Interviews oder hippen Kunstparties zu behaupten, wie ein Kunsthochschulstudent wie Haring es konnte. Auch hier bewahrheitet sich, was O.K. mit Blick auf Egoismus, Hierarchie und Besitzdenken schreibt: Graffiti ist nicht die ersehnte Ausnahme, kein Gegenbild der Gesellschaft, in der es stattfindet.
Zum anderen ist die Arbeit eigentlich sogar künstlerisch gescheitert, weil Holzers Aphorismus mit dem Bild eine enge, illustrative Verbindung eingeht. Die Bedeutungsoffenheit der Sätze, die auf der Straße ihre verwirrende Wirkung entfalten könnten, ist hier in relativ klare Bedeutsamkeit aufgelöst und auf eine Fantasy-Welt exotischer Bedrohung eingegrenzt, die nichts mehr mit dem Alltag der Betrachter/innen zu tun hat. Pinks hier nun vollständig figurativer Ansatz hat sich vollends von den relevanten Problemen des Writings gelöst, die Schriftbildlichkeit, Wettbewerb, Pseudonymität, Kommunikation ohne Aussagen usf. gestellt hatten. Die Arbeit verkörpert in diesem Sinne die Inkompatiblität der jeweils spezifischen Öffentlichkeiten von Straße und Kunstraum auf exemplarische Weise.
Vieles am Verhältnis der beiden Szenen von Kunst und Graffiti war wechselseitiges Missverständnis, aber nicht alles. Die Graffitibewegung hatte der Kunst in jenen Jahren mit spielerischer Leichtigkeit vorgeführt, was diese erhoffte, aber nicht zu verwirklichen schaffte: eine kreative Praxis mit den denkbar geringsten Zugangsschranken, untrennbar verwoben mit dem Lebensalltag; ein Modell von unentfremdeter Produktivität, das in seiner radikalen Selbstverantwortlichkeit ohne den Zwang zur Mehrwertschöpfung in der Tat ein subversives Moment innewohnt. Es bleibt eines, selbst wenn es kein zwingendes, nur ein relatives statt revolutionäres ist. Graffiti hat ohne politische Agenda, quasi als Idiot, das erreicht, was avantardistische Ansätze oder die alternativen Kunstszenen nicht konnten und nie erreichen werden. Ein subversives Moment wohnt Graffiti also auch im Verhältnis zur Kunst inne: Solange diese die Verbindung zu Galerien, Museen und Kunst als Beruf zu erhalten versucht, bleibt sie zwingend und eng gebunden an die ökonomischen Strukturen ihres gesellschaftlichen Milieus. Die ökonomischen Potentiale der Kunst bleiben Graffiti so natürlich verwehrt. Die diskursiven und publizistischen Möglichkeiten der Kunst dagegen sind in Zeiten des Internets oder immer kostengünstigerer Printprozesse nicht mehr unerreichbar (vielleicht ist dieser Diskussionsband hierfür ein Beispiel).
Die Würdigung des Unterschieds zwischen Graffiti und Kunst ist also die Lektion, die die Geschichte ihres langen Näheverhältnisses erteilt. Strategien der Reinheit sind nicht die richtige Antwort. Die Probleme der Kunst des 20. Jahrhunderts sind ein Reservoir und ein Archiv, aus dem sich Writer bedienen sollten wie aus der eigenen Graffitigeschichte; nur eben im vollen Bewusstsein der verschiedenen Kontexte und erst recht mit vollem Bewusstsein jener historischen Würde, die die Graffitibewegung gerade im Unterschied zur Kunst gewonnen hat: Der Gewissheit, dass die Kunst einiges zu lernen hätte vom schlauen Idioten Graffiti.
An dieser Stelle können Aspekte des obenstehenden Textes kommentiert werden. Solltest du eine ausführlichere Replik auf den Originaltext von Oliver Kuhnert einsenden wollen, bitten wir dich, diese an hello@possible-books zu verschicken.
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