The Death of Graffiti

... OK TDOG JK...

Jule Köhler

Dafür, dass Graffiti nie gelebt haben soll, bemüht sich der Text recht ausführlich um seine Tötung. Paragraph um Paragraph spricht er ihm die Existenzberechtigung ab. Die anklagende Überführung etlicher Aspekte von Graffiti vor einer dualistischen Folie von Kapitalismus/Nicht-Kapitalismus verschleißt und verschließt das Terrain so umfassend, dass sich in der textlich gestalteten Totalität schwerlich ein Eingang finden lässt. Der Text verschließt eher das Nachdenken, als dass er es öffnet. Ich würde gern sanfter beginnen, finde aber gerade nicht die Sprache für einen besseren Anfang als diesen. Vielleicht auch, weil die Geste dieses Textes, der als Abschied und Abrechnung angesetzt ist, reinen Tisch machen will und dabei nur verbrannte Erde hinterlässt.

Legitimität

Ich nehme einen Schritt Abstand von der direkten Ebene der Aussagen um besser sehen zu können, und beobachte, dass auf einer übergeordneten Ebene der Zusammenhang von Identität und Legitimität zum Thema wird. Das zeigt sich darin, dass das Ich des Textes von der Warte des moralisch/politisch Guten aus spricht. Und auch das frühere Ich des Autors wähnte sich auf der Seite des moralisch/politisch Guten. Und schließlich ist es das, woran sich der Text abarbeitet: Am vermeintlichen Irrglauben von Sprühern, mit ihrem Tun auf der Seite des moralisch/politisch Guten zu stehen, und an entsprechenden Legitimationsstrategien.

Sauer stößt die nur halb versteckte Sehnsucht nach Radikalität auf, deren Enttäuschung schließlich auch Anlass ist Graffiti zu verwerfen. Was einst an der Wurzel zu rütteln schien, wird nun im Nachhinein als Spross dieser Wurzel demaskiert. Graffiti zugeschriebenes subversives Potenzial wird in einer Bewegung der Verähnlichung entlarvt als Komplize des Kapitalismus. In dieser Geste findet der Verfasser seine neue Radikalität, als gäbe es nur zwei Seiten, hier und dort, ich und ihr, gut und böse. Aber was bleibt nach dieser intendierten Auslöschung? Kein Außerhalb.

Spiel

Demgegenüber hier der Vorschlag, Graffiti gerade als ein grenzgängerisches Außen zu verstehen, allerdings nicht als eines ohne jede Beziehung zur alltäglichen, gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es geht eher um die alternative, außeralltägliche Wirklichkeit des Spiels als ein Möglichkeitsraum. Das Spiel bezieht aus seinen gesellschaftlichen Umgebungen Material und bringt es als Motiv in einen anderen reflexiven Raum ein. In diesem sozialen Raum außerhalb des Alltags können – im Rahmen eines mehr oder weniger klar abgegrenzten Spielfelds – bestimmte Handlungen, Haltungen und Figuren thematisiert und erprobt werden. So gesehen, ist Graffiti kein wirkliches Außerhalb, sondern ein Phänomen am Rande bestimmter Ordnungen, das diese Ordnungen begleitend mitläuft – was nicht heißen muss, dass es ihnen nichts entgegensetzt.

Eine Besonderheit von Graffiti liegt darin, dass das Spielfeld mit jedem Bild erneut auf Tuchfühlung geht mit verschiedenen Grenzen alltäglicher Wirklichkeit, die es nicht unberührt lässt. So werden die Außenhäute städtischer Infrastrukturen ins Spiel einbezogen und markiert oder wird der Körper zu nicht vorgesehenen Bewegungen und Handlungen im öffentlichen Raum veranlasst. Das geschieht ohne Absprache mit Bürgern und Eigentümern aus dem gesellschaftlichen Umfeld des Spiels, über deren eigentumsrechtliche und ästhetische Ansprüche es sich hinwegsetzt. Dieses außerordentliche Hinwegsetzen, diese Ignoranz wird teils in verschiedenen Legitimationsversuchen abgefedert, indem Graffiti argumentativ in gesellschaftlich anerkanntere Sphären überführt und so im Rahmen des moralisch Guten und Schönen angesiedelt wird. So wird Graffiti als Kunst qualifiziert, als legitime Mitgestaltung des öffentlichen Raums gemäß eines demokratischen Pluralismus, als hübsches Dekor einer durch Graffiti bunter werdenden Welt, als starke Stimme der sozial Schwachen. Und dagegen wehrt sich der Text von Oliver Kuhnert. Aber auch er offenbart eine Version der Legitimierung, denn er geht ja von einer Enttäuschung aus, nämlich der Einsicht, dass Graffiti nicht der Prototyp einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft ist, die der Autor einst und scheinbar noch immer als moralisch richtige Version von Vergesellschaftung bewertet, so dass er dem Bekenntnis nach Graffiti in der Überzeugung moralisch guten Handelns übte.

Störung

Graffiti ist aber kein harmloses Spiel und diese Ansiedlung innerhalb der Ordnung qua Legitimation nimmt Graffiti das Befremdliche, das mit ihm einhergeht. Dieses Befremdliche lässt sich sowohl an den bis zur Strafverfolgung reichenden Beschwerden über Graffiti ablesen, als auch an Versuchen seiner Einhegung durch verständnisvolle Anerkennung eines künstlerischen Potenzials, die meist schon beim »Bombing«, spätestens aber bei der »Destroyline« aufhört.

Das ist auch der Grund, warum mir bei Graffiti nicht nach Theoretisierung und Rechtfertigung zumute ist.1 Denn ich überlege, ob Graffiti nicht gerade auch aus seiner Unverständlichkeit und Uneindeutigkeit lebt. Und das ist es eben auch, was das Moment der Störung ausmacht, das die Ordnung, auf die es sich bezieht, als unfertig, unabgeschlossen, undicht, uneinheitlich und unsauber markiert – das immerhin und vielleicht nichts weiter. Und entgegengesetzt zum Death of Graffiti steht die Überlegung, Uneindeutiges und Nichtpassendes nicht, und sei es auch nur symbolisch, zu töten. Sondern sich gerade da in einer immer auch schwierigen Übung von Toleranz herausgefordert zu fühlen zur Selbstbefragung und zur Platzgabe, zum Leben lassen – solange nicht Leben tatsächlich in Gefahr ist. Für ein Nachdenken über Graffiti ist es empfehlenswert, die damit einhergehenden Widersprüche, Konflikte und Unverständlichkeiten nicht auszuradieren, weil gerade aus diesen Reibungen das Spiel seine Kraft bezieht, die sich in allen Spielarten von Graffiti und bei jedem Mitspieler verschieden, eben je nach Name individuell ausagiert.

Und aus diesem Grund auch hat der Text von Oliver Kuhnert etwas Gutes. Denn er erzeugt zur Auseinandersetzung anregende Reibung, die auch Graffiti nötig hat, um nicht in einer selbstzufriedenen Haltung zu erstarren. Allerdings läuft der Beitrag selbst mit seinem Fokus auf Kapitalismus-Verdacht und seiner Bewertung von moralisch/politisch richtig und falsch Graffiti auch ins Messer, umso mehr, als er es sich auf der Seite des Guten bequem macht und die Aufmerksamkeit auf das detailreich ausgestaltete Feindbild lenkt, als stünden sich in der Welt immer zwei sich gegenseitig ausschließende Seiten gegenüber.

Reibung

Diesen Aspekt des Textes aufgreifend steht hier der Gedanke, dass Graffiti als Spiel gerade im Bereich der Unterscheidung von moralisch richtig und falsch arbeitet. Denn im Setzen seiner individuellen Markierung qua Pseudonym sieht sich zwar jeder Sprüher gemäß dem Spielgebot berechtigt, sein Zeichen zu setzen. Er kann und muss sich andererseits aber gerade dabei auch als überschreitend und verletzend erleben, was das positive Recht, die eigentumsrechtlichen und ästhetischen Ansprüche der Bürger der zum Spielfeld erklärten Gegenden und die Ansprüche weiterer Mitspieler angeht. Sprüher stehen also im Hier und Dort zugleich. Verletzungen können auch erfahren werden, nicht nur bei strafrechtlicher Verfolgung und Unfällen im unwegsamen Gelände, sondern auch bei kränkender Übermalung und bei Beseitigung der Bilder.

Es geht darum, sich zu setzen, sich hinwegzusetzen, zu besetzen und sich auszusetzen. Es gibt in der von Graffiti inszenierten Welt so etwas wie ein archaisches Szenario der nicht verrechtlichten Setzungen, das innerhalb des Spieles Sinn macht, dort keiner weiteren Legitimation bedarf und bestechend simpel und direkt ist. Ich würde also eher sagen, dass Graffiti Irritation und Reibung sucht, statt darauf zu beharren, dass Graffiti friedlich daher kommt.

Und das kann man bei Graffiti erfahren: Dass ein Tun, dass sich in der Logik des Spiels als berechtigt und vielleicht sogar sinnvoll erweist, Anerkennung einfordert und unheimlich Spaß macht, in anderen Zusammenhängen unberechtigt und sinnlos erscheint, missachtet und als verletzender Angriff wahrgenommen wird – vielleicht auch einfach total egal ist. Das Bündnis von Identität und Legitimität spaltet sich auf. Diesen Widerspruch nicht lösen zu wollen, sondern als nervösen Punkt gerade aufzusuchen und auszuhalten, könnte den Reiz des Spiels ausmachen.

Live

Graffiti bietet eine außerhalb des Spiels selten anzutreffende Erlebnisqualität. Der Körper wird ganz real in starke Bewegung versetzt und tastet vermittelt über Sprühdose und Marker die physische Realität von Gebäuden und Fahrzeugen wortwörtlich an. Dadurch, dass die Bilder auch nach dem Verlassen des Spiels im Alltag verbleiben, entsteht Reibung an den Grenzen von Spiel und Alltag. Dieser Effekt wird verstärkt, indem Spiel und Alltag unter verschiedenen Namen laufen. Das Ich zeigt sich als Spiel. Dadurch, dass ein Wettbewerb um Kraft und Sichtbarkeit entsteht, kommt es zur Reibung zwischen Graffiti-Ichs. Graffiti sucht Reibung. Und entgegengesetzt zum Alltag kann der soziale Raum des Spiels freiwillig betreten und wieder verlassen werden. Die Entscheidung zum Malen ist relativ selbstbestimmt, auch wenn die Eingebundenheit in soziale Dynamiken sicher weiterbesteht.

Das Erlebnis besteht also darin, dass Graffiti in ziemlicher Unmittelbarkeit die auch physisch präsente Wirkmacht eines als autonom gekennzeichneten und erlebten Handelns spüren lässt. Und das kann in seinen Auswirkungen zugleich als berechtigt und verletzend wahrgenommen werden. Verletzung und Reibung sind als Effekte in einigen Spielweisen vielleicht besonders gesucht, weil sie Wirkmacht stark bezeugen.

Selbstbestimmung

Vor welchem Hintergrund spielt sich das ab? Einmal vor dem Hintergrund des Alltags. Und von dem lässt sich zugunsten von Kontrastschärfe negativ zugespitzt sagen, dass er deutlich geprägt ist von Verpflichtungsbeziehungen (Eltern, Schule, Job) und den Verantwortung einfordernden Ansprüchen Anderer. Dann auch vor dem Hintergrund einer ziemlich modernen Vorstellung, die ich hier mal die Idee der persönlichen Autonomie nenne, und die in deutlichen Variationen sowohl im modernen Recht als auch im theoretischen Unterbau der Marktwirtschaft vorausgesetzt wird. Zwischen diesen beiden Hintergrundflächen – Eingebundenheit und Autonomieversprechen – klafft ein Spalt. Und da findet Graffiti statt. Graffiti sucht diesen modernen Mythos der Autonomie auf und erprobt ihn als Haltung. In einer übertreibenden Wendung greift Graffiti diesen Mythos auf und schleudert ihn als dämonische Heimsuchung auf die moderne Welt zurück.

Graffiti spielt mit Mechanismen der Bewertung und Legitimierung. Genaugenommen bestehen zwei Wettkämpfe. Der primäre Wettstreit läuft auf der Ebene der Bilder, die Kraft- und Behauptungsgesten sind, und zwar in zweifacher Hinsicht: Sie behaupten die Existenz einer sich im selbstbestimmten Namen setzenden Figur, die für sich selbst in ihren Bildern eine bestimmte Stelle oder Position beansprucht, sich mit und gegenüber anderen Graffiti-Ichs behauptet und in Szene setzt. Hier machen sich Graffiti-Ichs ein Stück weit unabhängig von äußerer Bewertung und Legitimation, indem sie sich selbst auf's Siegertreppchen setzen. Ein Graffiti-Ich verzichtet auf die legitimierende Einsetzung in eine Position durch Andere. Es setzt sich schlicht selbst in gewünschter Form an die gewünschte Stelle in Form einer Behauptung, die das Bild zugleich als solche offenlegt. Ein sekundärer Wettbewerb läuft auf der Ebene des Sprechens über diesen Bilderstreit, wo bestimmt wird, womit »Fame« generiert werden kann und was als »Toy« zu bewerten ist, wo über Legitimität, Stil und Erfolg der Selbstsetzung debattiert wird, wo um Gunst gebuhlt und Gunst abgesprochen wird: Graffiti-Politik.

Es geht weniger um einen Wettbewerb um Privateigentum im institutionalisierten Sinne, als um einen Wettstreit der Präsenz, der sich im Wettstreit um Stätten zur monarchischen Präsentation konkurrierender Könige niederschlägt. Wenn man Kapital wörtlich im Sinne von Kopf/Haupt nimmt, kommt man Graffiti auf die Spur als Spiel der Häupter, der Häuptlinge, der Könige im Medium des Namensbildes.

»King«

Die Verteilung der Bilder im Raum ist als Aneignung zu denken: Als ästhetische Aneignung des Raumes, als Verortung, auch als territoriale Positionierung und Aneignung von Blicken, vielmehr aber noch als Aneignung von Kraft. Es entsteht eine Kartografie, eine Zeichnung des Raumes im Medium des Bildes, das die vielfache Präsenz eines Graffiti-Ichs ins Bild setzt, wobei ein Bild das andere bestätigt. Die Bilder verdichten sich zu einem Kraftfeld, das der bloßen Behauptung des einzelnen Bildes zur Wirklichkeit verhilft, indem die Bilder und mit ihnen die Graffiti-Ichs ganz physisch und vielfach in gegenseitiger Bestätigung da sind – auch in Abwesenheit ihres Schöpfers.

Es geht um eine Akkumulation von Kraft, um die Erzeugung von Präsenz als Zeugnis einer durch das Bild erst entstehenden Potenz: Kraft. Zwischen Sprüher und Graffiti-Ich besteht die Differenz des Doppelgängers. Ein Graffiti-Ich lebt in seinen Bildern, hat im Bild seinen originären Ort und ist dabei eine ganz besondere Form von Selbstportrait, das weniger Abbild als kraftspendendes Vorbild ist. Die Bilder sind nicht sekundäre Repräsentationen, die etwas oder jemanden außerhalb des Bildes zur getreuen Abbildung bringen. Sondern umgekehrt sind die Bilder Präsentationen, die ein Graffiti-Ich in Szene setzen, dass über die Bilder zur Wirklichkeit kommt. Hier hat das Graffiti-Ich seinen großen Auftritt. Der bildgewordene Schriftzug verweist auf sich selbst zurück: Das, was du hier siehst, bin ich, der ich da bin als das was du siehst. Sie wirken auch in totaler Abwesenheit ihrer Bezugsperson. Darin liegt ihre Kraft.

Erst das Begehren aber, das Bild als Abbild auf ein Vorbild zurückzuführen, erzeugt in einem Akt der Verwechselung jenen Effekt, in dem die Kraft der Bilder erzeugt und auf den Sprüher übertragen wird. Die Bilder werden als Zeugen seiner Wirkmacht gelesen, als Wirkmacht desjenigen, der auch in Abwesenheit präsent sein kann, fast wie ein Gott. Die Kraft, von der das Graffiti-Ich in seinen Bildern erzählt, die es mit einer gewissen Dreistigkeit einfach behauptet und latent hält, färbt ab auf den, der dieses Graffiti-Ich hegt und versorgt. Ein Sprüher erscheint im Lichte der Kraft, die sein Graffiti-Ich präsentiert und ist dabei Effekt seiner Bilder, die ihn ermächtigen, indem sie ihm vorauseilen. Auch aus diesem Effekt speist sich wiederum die Kraft der Bilder, die eine Kraft zur Verwandlung ist. Sie sind daher eher Vorbilder als Abbilder, so dass Graffiti eher als Selbstaneignung und -erweiterung über Umwege wirkt. Die Bilder sind Mittel zur Erzeugung von Kraft, eine Kraftquelle, ein Transformator. Die Kraft des Sprühers ist die Wirksamkeit seiner Bilder, die eine Präsenz in Abwesenheit beschwören können. Und mit diesen Mechanismen der Kraft-Übertragung spielt Graffiti, das so die Wechselseitigkeit zwischen Macht- und Bild-Behauptung zum Spielmotiv macht.2

Es ist ein Wettbewerb, bei dem sich das Graffiti-Ich selbst aufs Siegertreppchen setzt, eine Thronbesteigung ohne die Ernennung zum König durch andere. Das Graffiti-Ich ist der illegitime König, der sich um Legitimation und Absprachen nicht schert, davon entlastet ist. Na klar bin ich der König, sieh die Zeichen meiner Macht! Ein König, der stirbt, wenn die Bilder als Quellen seiner Macht sterben. Das Graffiti-Ich rennt um sein Leben, dem Tod immer ein Bild voraus, während es die Stadt seiner Kartografie unterwirft.

Präsenz

Graffiti ist an den Aspekt der Sichtbarkeit gekoppelt. Wer nicht malt, ist nicht da. Und weil die Bilder und Graffiti-Ichs durch Übermalung und Bereinigung sterblich sind, muss man dran bleiben. Graffiti macht also Aktivität zur Bedingung der Spielteilnahme. Und gerade dieser Aspekt führt zur Hegemonie einiger Graffiti-Ichs gegenüber anderen. Denn was für ein Graffiti-Ich setzt sowohl der Maßstab der visuellen Omnipräsenz als auch der der Autonomie voraus? Ein starkes, aktives, präsentes, unverletzliches, unermüdliches, unabhängiges, ehrgeiziges, planendes, sich selbstverständlich und ohne Frage setzendes Ich. Und weil diese Attribute sich in der Erwartungs-kategorie »Männlich« wiederfinden, kann das ausgesprochen Männliche an Graffiti, das nicht nur Männer ausüben können und das auch Männer unter Druck setzt, nicht übersehen werden. Polemisch zugespitzt ließe sich sagen: Graffiti ist ein männliches Spiel. Und dass das im Text von Oliver Kuhnert trotz aller Ausführlichkeit nicht angesprochen wird, ist vielleicht symptomatisch.

Ich?

Das heißt nicht, dass es nicht auch eine Vielzahl anderer Graffiti-Ichs gibt, die ins zeitlich und räumlich gestreckte Spielfeld einziehen – und eben auch andere Spielmöglichkeiten und Zeichenarten, die vielleicht das Augenmerk weniger auf den Aspekt visueller Dominanz und omnipotenter Präsenz legen. Aktivität bleibt aber trotzdem Bedingung. Passive Positionen bleiben relativ unsichtbar.3 Diese Schicht der kleineren Graffiti-Ichs ist sogar ziemlich groß. Hier ist Platz für die Vielfalt, Wandelbarkeit, Unfertigkeit, Anfälligkeit, Offenheit, Zaghaftigkeit, Schwäche, Fragilität und Vergänglichkeit infrage stehender Graffiti-Ichs, auch für das Gespräch in Abgrenzung vom Wettbewerb. Damit kann zwar selten »Fame« errungen werden. Dafür formuliert Graffiti aber hier die Herausforderung an ein Graffiti-Ich, das sich immer wieder anders vor anderem Hintergrund und im Austausch mit und neben anderen findet. Und das ist deutlich schwieriger als die Festlegung auf ein potentes, abgeschlossen definiertes und vermeintlich autonomes Graffiti-Ich – als wäre ein Ich einfach fest und unabhängig von anderen da.

Aber vielleicht boykottiert Graffiti auch gerade die im modernen Begriff der Individualität verfassten Anforderungen an moderne Ich-Bilder, sich immer wieder neu und anders entwerfen zu müssen und mehrere Identitäten gleichzeitig zu bündeln. Dann könnte die Festlegung auf ein feststehendes eigenes Graffiti-Ich, dass nur aus einem Namen besteht, als Entlastung und erleichternde Komplexitätsreduktion gewertet werden. Und die im Spielmythos betriebene Unterscheidung von Originalität/Authentizität und »Bite« arbeitet in diese Richtung der (Un-)Möglichkeit eines abzugrenzenden, ganz einfachen Eigenen. Gerade aber auch im Festhalten an bestimmten Bildtraditionen, in der Übernahme von Bild-Elementen aus den Graffiti-Ich-Entwürfen anderer zeigt sich ein Graffiti-Ich als eines, das nie nur aus eigener Kraft, sondern auch aus den Kräften anderer lebt.

Individualität

Mit Bezug auf das Ich-Problem im Text von Oliver Kuhnert soll hier der Hinweis auf den letzten Satz des zweiten Teils des Kommunistischen Manifests nicht fehlen. Er eignet sich als Kommentar zu der im Referenztext unter dem Kampf-Begriff ‚Individualismus‘ implizit gemachten Entgegensetzung von Individualität und Sozialorientierung. Diese Entgegensetzung animierte auch die realsozialistischen Großprojekte des 20. Jahrhunderts dazu, entgegen moderner Ideen von Individualität das Ich fix zu bestimmen über die Aufgabe der Verwirklichung des Sozialismus:

„An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“4 Auf die Reihenfolge kommt es an. In dieser Formulierung zeigt sich eine Dialektik, die eine gegensätzliche Ausschließlichkeit zwischen Individualität und Sozialorientierung aufzuheben sucht, wie sie in den Begriffen von Individualismus und Sozialismus festgeschrieben wird.5 Nichts spricht dagegen, dass ein Ich, das sich verhältnismäßig frei entwerfen kann und muss, sich nicht auch für Andere entscheidet!

Entlastung

Im Graffiti kann erfahren werden, wie und wann die behauptete Autonomie verletzt wird, verletzt und scheitert, wann und wie sie an die behauptete Autonomie des Anderen stößt. Und diese Erfahrungen können mit Bezug auf ein möglichst friedliches Zusammenleben außerhalb des Spiels als Fragen mitgenommen werden. Und dann könnte man auch die Annahme von Autonomie generell infrage stellen oder zumindest überlegen, wie eine Selbstbestimmung aussehen könnte, die auch die Ansprüche der Anderen aufnimmt. Gestaltet sich ein Ich nicht eher vom Anderen her?

Da das Spiel aber ermöglicht, seinen sozialen Raum freiwillig zu betreten und eben auch wieder zu verlassen, kann Graffiti Fragen aufwerfen, ohne Antworten finden zu müssen. Das Spiel entlastet von allem weiteren, vor allem von moralischen Überlegungen. Das ist ja das Schöne beim Spielen.

Und wenn man Graffiti als Gesellschafts-Allegorie lesen will, dann kann man das als Karikatur entfesselter Wettbewerbs-Ichs verstehen, die nur sich selbst im Blick haben. Muss man aber nicht. Denn davon abgesehen, dass es agonale Spiele auch in nicht-marktwirtschaftlichen Gesellschaften gibt, ist Graffiti auch zutiefst sozial. Denn es macht Mitteilung von Leuten, die von Anderen gesehen werden wollen. Um von anderen gesehen zu werden, kommen Graffiti-Ichs erst zur Welt, überschreiten sie Grenzen und haben deswegen meistens auch den Blick der Anderen im Blick. Auch das autonome Graffiti-Ich ist von Anfang an sozial eingebunden. Und von hier aus gibt es verschiedene Möglichkeiten des Spielens. Dennoch erlaubt das Spiel als sozialer Sonderraum eben auch Handlungsweisen, die außerhalb des Spiels mehr oder weniger tabu sind.

Die Frage „Kapitalistisches Spiel oder nicht?“ kann und will ich hier nicht entscheiden. Allein das Entweder/Oder lässt mich skeptisch werden. Gerade die Unentscheidbarkeit dieser Frage ist spannend. Je nach Blickwinkel kippt Graffiti in andere Bilder, die dennoch an ein paar Stellen zusammenhängen, wie durch Scharniere verbunden. Ein Scharnier ist sicherlich die schillernde Gestalt der Autonomie, an der auch Oliver Kuhnert festhält wenn er dieselbe Sprühern abspricht und missgönnt, anstatt diese Figur selbst infrage zu stellen.

Wichtiger als die Kapitalismus: Ja/Nein-Frage erscheint mir in einer Umkehrung auch die Feststellung dahinter: Dass nämlich die kapitalistische Marktwirtschaft selbst spielartig verfährt und dabei eine ganz bestimmte Subjekt-Verfassung bei den Marktteilnehmern voraussetzt: Die idealen Marktteilnehmer sind autonome Spieler mit einer ganz bestimmten (Gewinn-)Rationalität und Interessenlage. Darauf weist auch der Umstand hin, dass der wirtschaftswissenschaftliche Unterbau der modernen Marktwirtschaft mit spezifischen Spieltheorien arbeitet. Parallelen zwischen Graffiti und Marktwirtschaft sind auch diesem Umstand der Spiel-Verfasstheit der modernen Marktwirtschaft selbst geschuldet.

Die relative Grenzenlosigkeit des Spielfeldes und das Ausbleiben eines Spielendes – also die Ausbreitung des Graffiti-Spiels in Zeit und Raum – lässt Graffiti aber schon als guten Kandidaten in Sachen kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Spiellogik dastehen. In dieser Perspektive könnte Graffiti dann aber auch als Bloßstellung des Kapitalismus‘ gelesen werden, als seine Grimasse. Denn es lässt die im marktökonomischen Feld erwünschte Spielermentalität auf unerwünschtem Feld, nämlich dem städtischen Raum der bürgerlichen Öffentlichkeit, fremdgehen. In diesem von individueller Zurücknahme geprägten Raum verletzt die Haltung des Graffiti-Spielers sichtbar Ansprüche und Rechtsgrenzen – und macht so tendenzielle Auswirkungen kapitalistischer Logik für jeden Bürger spürbar. In dieser Lesart wäre Graffiti ein Denkmal für gesellschaftliche Wert-Konflikte.

Setzung

Zurück zum Graffiti: Das Wortfeld von Setzen, Hinwegsetzen, Besetzen und Aussetzen verweist darauf, dass eine Gleichzeitigkeit verschiedener Momente im Spiel ist. Die können auf reflexiver Ebene je Ansätze zu verschiedenen Lesarten von Graffiti sein und auf der Handlungsebene auf verschiedene Spielweisen verweisen, indem etwa eines dieser Momente verstärkt oder geschwächt gespielt wird. Das Wortfeld verweist

  1. über den Satz auf das Feld der Sprache, des Gesprächs, der Präsenz, der Einschreibung, der Behauptung, des Anspruchs

  2. über das Sitzen auf die körpertechnische Verortung, das vereinnahmende Innehaben einer Stelle oder Position, das Thronen, Repräsentieren

  3. über das Besetzen nicht nur auf territoriale und symbolische Aneignungen, sondern auch auf Fetischisierung und Besessenheit – wobei ich nicht nur an besessene Spieler denke, sondern auch an die Zeichnung der urbanen Kulisse, die sich über Graffiti als anfällig für dämonische Fremdbestimmung zeigt

  4. über das Hinwegsetzen auf eine Komplexitätsreduktion, Anspruchsverweigerung, das „Na und?“ und „Trotzdem!“, Selbstbehauptung, das Sichüberwinden, Angeben, Ärgern und schon der Sprache/Schrift innewohnendes Moment der Gewalt

  5. über das Aussetzen auf auch in nicht-kapitalistischen Gesellschaften den Jungkriegersport charakterisierende Übungen in Angstüberwindung zur Erlangung eines Personenstatus', das Reaktionen erwarten lassende Auftreten und Positionsbeziehen in einem öffentlichen Bereich, das sich ins Gespräch bringen und über das Bild sprechen und urteilen lassen, das Bild allein lassen und hoffen, dass es bleibt und wirkt.

Gebot

Was Graffiti-Gesten vom bürgerlichen Eigentum unterscheidet, das ist die fehlende vertragsrechtliche Legitimation und Verstetigung. Auch bei den europäischen Kolonialisierungen wurde um Rechtmäßigkeit gerungen, indem etwa über das biblische Gebot zur Bestellung des Bodens und zur Arbeit die Aneignung nicht bestellter und menschlich gezeichneter Bodenflächen legitimiert wurde – Wasted Lands. Man könnte überlegen, ob Graffiti nicht gerade dieses vertraglich Legitimierende pervertiert, indem es die Unterschrift aus dem vertraglichen Kontext der Gegenseitigkeit freisetzt und frei flottieren lässt, indem ein Graffiti-Ich sich selbst unterschreibt.

Und einmal schon beim Recht kann man auch die nicht zufällige Form dieser Abrechnung mit Graffiti von Oliver Kuhnert in Rede stellen. Denn die zeigt sich ebenfalls im oben markierten Wortfeld des Setzens, nämlich als Gesetz6. Als solches sucht es die Komplexität eines Phänomens verschließend in Paragraphen zu erfassen und in vertikaler Weise von oben fest- und stillzustellen – ein Gestus, mit dem Graffiti gerade aufbrechend spielt. Denn es formuliert, dass das horizontale Spiel der Setzungen und Ansprüche nie fertig und nie in sich einheitlich geschlossen, sondern lebendig und veränderlich ist, sich der letztgültigen Setzung entzieht.

Gewissermaßen ist vielleicht die individuelle Setzung im Graffiti das einzige Spielgebot. Ohne jede externe Regulierung ist es den Spielern überlassen mit dieser Aufforderung des Spiels umzugehen, die Ausmaße und Grenzen des mit jedem »Piece« und jedem »Tag« neu vermessenen Spielfeldes und des eigenen Tuns zu bestimmen. Dass in Gesprächen über Graffiti auch immer wieder Tabus ausgelotet werden, dass man zusammen eine Wand und Bilder unter dem Namen eines Anderen malt, dass ein »Tag« meistens neben und nicht auf ein anderes gesetzt wird, dass ein Graffiti-Ich von mehreren bespielt werden könnte, sind Hinweise darauf, dass es auch im Graffiti verschiedenen Möglichkeiten des Spielens gibt. Dass das Spielgebot ohne jede Begründung und externe Regulierung daherkommt, könnte man zum Anlass nehmen, das Fehlen von Legitimation anzunehmen und auszuhalten – und dem eigenen Tun und (Graffiti-)Ich gegenüber immer wieder prüfenden Abstand einzunehmen.


  1. Wenn man schon auf die theoretische Ebene ginge, müsste man vielleicht auch von konkreten Einzelfällen ausgehen, weil es sich nicht um ein festgeschriebenes und einheitlich reguliertes überzeitliches System handelt. Einzelne Graffiti-Gesten, Sprüher und Graffiti-Diskurse in einem konkreten historischen Setting zu verorten, würde Verallgemeinerungen vorbeugen und Graffiti im Rahmen einer infrage stehenden (politischen) Ästhetik konkret betrachten lassen. Dann müsste auch berücksichtigt werden, dass der Graffiti-Gestus nicht nur von Ort zu Ort ein anderer sein kann, sondern auch in verschiedenen Macht-Dynamiken verschieden wirkt wie bspw. im Graffiti-Tourismus. 

  2. Ich orientiere mich hier grob an den Studien von Louis Marin zur Wirkmacht des Bildes, insbesondere im Zusammenhang mit den Königsportraits des 17. Jht's. Vgl. den Band von Beyer, Vera/Voorhoeve, Jutta/Haverkamp, Anselm (Hg.): Das Bild ist der König. Repräsentation nach Marin, Fink: München, 2006. 

  3. Das lässt sich nur bedingt sagen, wenn man sich auf die positive Ebene der Schriftzüge bezieht. Wenn man aller-dings beobachtet, was von Graffiti relativ verschont bleibt (z.B. Kirchen, Privatautos, Einfamilienhäuser, Friedhöfe) zeigt sich hier Passivität als Enthaltung. 

  4. Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (1848), darin enthalten: Grundsätze des Kommunismus (1847) von Friedrich Engels, mit einem Nachwort von Iring Fetscher, Reclam: Stuttgart, 2010. S.43 

  5. Zum historischen Begriffsfeld rund um Ideen von Individualität sei der folgende Text von Niklas Luhmann empfohlen: _individuum, Individualität, Individualismus, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft* (Bd.3), Suhrkamp: Frankfurt/Main, 1989. Zu welchen Problemen mit Ich-Bildern man in einer Situation gesellschaftlicher Entdifferenzierung (z.B. DDR) kommen kann, hat Christa Wolf vielfach beschrieben. 

  6. Für diesen Hinweis bedanke ich mich bei Joachim Spurloser. 

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An dieser Stelle können Aspekte des obenstehenden Textes kommentiert werden. Solltest du eine ausführlichere Replik auf den Originaltext von Oliver Kuhnert einsenden wollen, bitten wir dich, diese an hello@possible-books zu verschicken.

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