„Each one teach one“ – aber was denn eigentlich?
Gegen Graffiti zu wettern ist nichts wirklich Neues, siehe die Lokalpresse von gestern. Dass aber endlich fundierte und grundlegende Kritik „aus den eigenen Reihen“ kommt, ist bemerkenswert und hat Unterstützung verdient. Den Argumenten im vorliegenden Text stimme ich in weiten Teilen zu und halte ihn für eine gute Basis für eine weiterführende Debatte über Graffiti und ähnliche Ausdrucksformen. Sicherlich reizt es, auf einiges Genannte genauer einzugehen, dennoch will ich mich im folgenden auf einen bisher nicht genannten Aspekt beschränken, der mir wichtig erscheint.
Unter II heißt es, „für die Öffentlichkeit ist Graffiti kein wirkliches Mysterium mehr, dazu ist es zu allgegenwärtig. (...) Es ist ein konventionalisiertes Massen- und Alltagsphänomen.“ Diese Erkenntnis ist weder neu noch erbaulich, wenn man Graffiti nicht als nutzlosen Zeitverteib abschreiben möchte. Die Einschätzung rührt von einer Perspektive her, die stark auf die Außenwahrnehmung fokussiert anstatt zu betrachten, welche Potenziale Graffiti „nach innen“ für die Herausbildung gesellschaftskritischer Identitäten und der Entwicklung eines Selbstverständnisses als politisch handelnde Subjekte bei seinen (zunächst meist) jugendlichen Urheber_innen birgt. Das Phänomen wirkt auf wohlgesinnte Außenstehende oft wie das Werk von Phantomen, die schaffen was andere unbedingt verhindern wollen. Graffiti beweist, dass eine gestalterische Einmischung in den öffentlichen Raum möglich ist und verhilft damit – den Graffitisten wie auch Außenstehenden – zu einem Verständnis von städtischer Öffentlichkeit, die nicht statisch und lediglich von oben geplant ist.
Testlauf in Widerständigkeit
Für manchen Jugendlichen dient der Drang nach selbstverliebter Repräsentation durch Sprayereien in der Öffentlichkeit als ein erster Schritt für eine intensive Auseinandersetzung mit der gebauten Stadt, die ihn umgibt und den sozialen, politischen und rechtlichen Strukturen, die sie durchdringen. Writer werden im Laufe ihrer Karrieren zu autodidaktische Profis, einerseits beim technisch versierten Streben um visuelle Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum, andererseits bei der Vermeidung von Ärger mit Strafverfolgungsbehörden und anderen Autoritäten. Graffiti ist vordergründig eine künstlerische Ausdrucksform, entscheidend ist aber die Bedeutung als Raumaneignungs- und Selbstrepräsentationsstrategie, die als ein Testlauf in Widerständigkeit verstanden werden kann, sowohl in praktischer als auch theoretischer Weise.
Die Chancen auf Politisierung stehen gut
Kicken, Gras rauchen, skaten, Egoshooter zocken – bei kaum einer anderen Form des jugendlichen Zeitvertreibs stehen die Chancen dermaßen gut wie bei Graffiti, das Überschreiten von Regeln als Übung für andere widerständige Aktivitäten einzuüben und mit Fragen konfrontiert zu werden, deren Beantwortung nur durch das Verstehen der fundamentalsten gesellschaftlichen Machtverhältnisse möglich ist: Warum dürfen wir die Wände der Häuser, in denen wir wohnen, nicht gestalten? Warum hat der Hauseigentümer und nicht wir Bewohner_innen, unsere Nachbar_innen und die Passant_innen, die täglich daran vorbei gehen, das Sagen über das Erscheinungsbild unseres Hauses – obwohl er ganz woanders wohnt und das kaum kennt? Warum ist es verboten S-Bahnen zu besprühen und den rot-weißen DB-Einheitslook zu übergehen, wenn es gleichzeitig finanzstarken Unternehmen erlaubt wird, ganze Waggons mit Werbung zu versehen? Warum werden wir an vielen Orten in der Stadt auf Schritt und Tritt videoüberwacht? Warum bleiben Pieces in den ärmeren Stadtteilen stehen während die Innenstädte für den Massenkonsum penibel sauber gehalten? Tagtäglich erfahren Graffitisten bei und durch ihre Aktivitäten, dass öffentlicher Raum umkämpft, aber nicht verloren ist, wenngleich die großen Entscheidungen nicht „von unten“ sondern in Stadtplanungsbüros, Eigentümerversammlungen, Werbeagenturen und Unternehmenszentralen getroffen werden. Und dagegen ist Graffiti immer noch eine passende Art den Mittelfinger zu zeigen. Ein Blick ins Geschichtsbuch zeigt, dass schon vor 30 Jahren der Sprüher von Zürich nicht wegen ein bisschen Farbe eingesperrt wurde, sondern, weil „er es verstanden hat, über Jahre hinweg und mit beispielloser Härte, Konsequenz und Rücksichtslosigkeit die Einwohner von Zürich zu verunsichern und ihren auf unserer Rechtsordnung beruhenden Glauben an die Unverletzlichkeit des Eigentums zu erschüttern.“ (Stahl1 1990: 15).
Trotzdem, Politisierung größtenteils Fehlanzeige
Der Großteil der gewaltigen Menge an Energie, Leidenschaft und Grips, die investiert wird, verpufft bei den Bemühungen um das subkulturelle Fortbestehen, die räumliche Expansion und die (teilweise kaum merkliche) stilistische Weiterentwicklung. Mit immer ausgefeilteren, selbsterfundenen Kniffen und Techniken gelingt es der jeweils nächsten Generation von Graffitisten gemäß den Regeln der Leistungsgesellschaft sich den immer engeren Überwachungsstrategien erfolgreich zu widersetzen – aber außerhalb der eigenen Subkultur engagiert sich kaum eine*r in ausdrücklich politischen Zusammenhängen. Das eigene Treiben wird von den wenigsten als politische Handlung erkannt, so dass eine Solidarisierung „nach außen“ ausbleibt, eine Solidarisierung mit Initiativen, die sich für ähnliche Belange stark machen, die auf verwandten Aktionsfeldern kämpfen. Möglichkeiten zum ideellen Brückenschlag oder gar zur handfesten Unterstützung mit Hilfe der „eigenen“ Kommunikations- und Aneignungsmittel gäbe es genug. Die vielfältigen Gruppen innerhalb der Recht auf Stadt-Bewegung oder das Amt für Werbefreiheit, das sich von Berlin-Kreuzberg ausgehend für einen öffentlichen Raum ohne Werbung einsetzt, sind nur einige davon. Mit gewagtem oder inhaltlich cleveren Adbusting liebäugeln viele Graffitisten, aber die wenigsten sind involviert. Dabei könnten derlei Initiativen die Expertise bei der Aneignung öffentlicher Flächen gut gebrauchen.
„Szene an sich“ statt „Szene für sich“
Weit weniger verständlich und noch bedauernswerter ist es, dass auch „nach innen“ kaum Solidarisierung stattfindet. Zwar herrscht ein diffuses Bewusstsein der Graffitiszene „an sich“, was darin zum Ausdruck kommt, dass man sich auf einen gemeinsamen Feind, grobe Spielregeln, anerkannte Techniken, prestigeträchtige Maluntergründe und Aktionsorte einigt sowie – bisweilen aus purem Opportunismus – freundschaftliche Kontakte zu anderen Graffitisten pflegt. Eine „Szene für sich“, die einen solidarischen Umgang untereinander pflegt, lässt sich, abgesehen von Ausnahmen vor allem in kleineren Städten, nicht ausmachen2, wenngleich dies aus unmittelbaren, egoistischen Gründen naheliegend wäre.
Sicherlich können dennoch auch positive Ausnahmen gelobt werden, die immer wieder im lokalen Kontext aktiv werden3. Wenngleich mir bisher keine „Bunte Hilfe“ bekannt ist, die nach Vorbild des „Rote Hilfe e.V.“4 professionelle rechtliche Unterstützung in Strafverfahren wegen Sachbeschädigung gegen Graffitisten organisiert, sollte der in Jena 2014 vom HipHop-Netzwerk JustYo! organisierte Infoabend mit Anwalt zum Thema Graffiti und Strafverfolgung5 nicht ungenannt bleiben. Außerdem leisten in etlichen Jugendhäusern und Vereinen engagierte Ehrenamtliche und Sozialarbeiter_innen Großes im Hinblick auf eine Politisierung von Graffiti, wobei auch nicht unter den Tisch fallen darf, dass die Bemühungen von Graffitivereinen sich leider zu häufig auf das Ergattern legaler Flächen oder von Auftragsarbeiten belaufen. Das vom Graffitiarchiv regelmäßig veranstaltete Vandal Café6 möchte mit verschiedenen Fragestellungen eine kritische Selbstreflexion über das gemeinsame Hobby anregen oder – wie im Fall des Hamburgers OZ – Solidaritätsaktionen und Prozesskostenunterstützung ermöglichen. Hier und da kommt es auch mal zur Versteigerung von Leinwänden o.ä. für Rechtshilfebeistand. Die von skandinavischen Aktivist_innen geplante, aber leider nie gegründete Haftpflicht-/Rechtsschutzversicherung für Graffitisten ist hier ebenfalls zu nennen, da auch ein solches Projekt das Bewusstsein für die Notwendigkeit solidarischen Handelns im Graffiti festigen kann.
„Each one teach one“ – aber was genau?
„Each one teach one“ heißt ein immer wieder herbeizitiertes Konzept, das die Weitergabe von Wissen, Fähigkeiten, Styletricks und Werten innerhalb der (HipHop- und auch) Graffitisubkultur bezeichnet. Und die „alten Hasen“ sind in der Regel mächtig stolz darauf, dass sie „die Kultur weiterreichen an die nächste Generation“ und sich so verdient machen um das Fortbestehen von beispielsweise „Respekt“ als zentralem Moment innerhalb der Szene. Ansonsten bleibt es meist dabei, dass die Jüngeren gezeigt bekommen wie man die Pfeile richtig an die Buchstaben bastelt, dass Streetart minderwertig ist und der vielbeschworene „Respekt“ eben doch Ausnahmen kennt.
Graffiti kann weit mehr als nur bunte Tupfer im Stadtgrau zu setzen, die vielerorts ja eh schon erwartet, manchmal geduldet oder sogar beauftragt werden. Graffiti kann die Ordnungshoheit symbolisch angreifen und es bietet große Möglichkeiten für die Politisierung seiner Aktivist_innen. Graffiti ist direkte Interaktion mit dem Stadtraum, der selbstermächtigte Eingriffe nicht vorsieht und der klar aufzeigt, dass die Gestaltungsmacht bei einigen wenigen liegt. „Nachwuchsarbeit“ und Selbstorganisation im Graffiti sollte sich daher bewusst werden, dass es nicht beim Verbiegen von Buchstaben und Setzen von Highlights stehenbleiben sollte, sondern dass Graffiti, die Repression dagegen sowie deren Überwindung ideale Lernfelder sind für eine politische Bewusstwerdung der Subkultur für eine „Stadt für alle“.
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Stahl, Johannes (1990): Graffiti: zwischen Alltag und Asthetik. Beiträge zur Kunstwissenschaft, Bd. 36. Scaneg, München ↩
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Von gänzlich unsolidarischen Aktionen unter Graffiti-Tatverdächtigen ganz zu schweigen. Alleine aus Berlin sind mehrere Fälle gemeinschaftlicher Sachbeschädigung bekannt, in denen die Festgenommenen alleine auf den Reinigungskosten sitzengeblieben sind, weil ihre „Partners in Crime“, die fliehen konnten, sie sitzengelassen haben. ↩
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An alle die an dieser Stelle nicht namentlich genannt sind, dies aber gerne hätten: Bitte meldet Euch unter graffiti@jugendkulturen.de. Wir erstellen demnächst ein Verzeichnis hierzu und kontaktieren Euch nochmal. ↩
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siehe www.rote-hilfe.de ↩
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siehe http://www.justyo.de/2014/03/farbenfroh-informiert-13-03-jena/ ↩
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siehe http://www.graffitiarchiv.org/ueber-graffiti/vandal-cafe/ ↩
An dieser Stelle können Aspekte des obenstehenden Textes kommentiert werden. Solltest du eine ausführlichere Replik auf den Originaltext von Oliver Kuhnert einsenden wollen, bitten wir dich, diese an hello@possible-books zu verschicken.
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