The Death of Graffiti

TGOD
„Manifest des Traurigseins“ oder „Wider die Embryonalillusion“

Christoph May

Beide Untertitel habe ich einer abstrakten Wandmalerei entnommen, die Oliver Kuhnert auf seiner Homepage (oliverkuhnert.de; Freie Arbeit) präsentiert. Denn bei der Lektüre von Kuhnerts TDOG-Thesen (The Death of Graffiti) ereilt mich das gleiche flaue Gefühl wie bei der Betrachtung seiner blassen „Körper- und Zerfallsstudien“. Die Hauptthese in TDOG lautet in Wahrheit: „Nichts erwarten oder nichts zusammen machen.“ Verdruss ist hier Programm!

Mansplaining

Hauptthese meinerseits: TDOG ist das „Man[n]ifest des Traurigseins“ über den inneren Death von Oliver Kuhnert. Über den vermeintlichen Death von Graffiti erfährt man hingegen kaum etwas. Kein Mann, viele Worte: Mansplaining! Zur Schmerzlinderung empfehle ich hernach das messerscharfe Buch Men explain things to me von Rebecca Solnit (August 2015).

Wie also versucht sich Kuhnert mit Mitte Dreißig – mein Jahrgang: 1979 – aus der Mutti rauszubomben und das Embryonalstadium zu verlassen („Wider die Embryonalillusion“)? Und weshalb spricht er so traurig drein, noch bevor es überhaupt losgeht? Fürchtet er, der bevorstehende Wurf könne tödlich enden, quasi Geburt des Mannes = Tod der Männlichkeit?

Kritische Männerforschung

Der verzagte Bursche bereut, noch immer nicht zu Ende geboren zu sein. Ein Close Reading von TDOG bringt vielleicht Licht in das ungeborene Leben der Kuhnertschen Leibesfrucht. Und weil ich Männerforscher bin (mensstudies.eu), liegt der Schlüssel zu meinem Glück in der Sprache seiner Gefühle.

Wenn Männer dieser Tage nach ihren Gefühlen fahnden, machen sie es genau wie Kuhnert. Erst gehen sie Jahrzehnte lang bomben – wahlweise Call of Duty zocken, basejumpen, rappen, hacken, kicken, Briefmarken sammeln, nach Syrien auswandern –, spüren schließlich, dass ihre Flucht womöglich ein Fluch ist, und machen ernsthaft weiter mit Kunst, Architektur, Wissenschaft oder Profi-Terrorismus. Nach Wärme, Geborgenheit und Liebe suchen sie auch hier vergebens.

Welt und Krieg

Leider. Gar nicht ihre Schuld, sondern ein intergenerationelles Problem: emotionale Vernachlässigung nach WK1 und WK2, hartes Leben, harter Kern, innere Isolation in der äußeren, Selbsthass-Maske. Vereinzelt heute auch gern das Action-Paket aus Resignation plus Propaganda plus Radikalisierung. Übel, übel. Aber keine Überraschung. Hilflose Graff-, Streu- und Atombomben, wohin Mann blickt und wo immer man Mann begegnet. Killer-Korsett der modernen, gelegentlich mordenden Männlichkeit: Sprengstoffgürtel oder eben Sprengstoffgraffiti.

Sie sind mitten unter uns!

Um sein mulmiges Graffiti-Gefühl zu artikulieren, wählt Kuhnert den Umweg über die Wissenschaft. Sicher könnte er hier herrliche Stories aus 20 Jahren Graffiti-Vita zum Besten geben, aber nein – kein bisschen Spaß muss sein! – er entscheidet sich für eine offizielle Erklärung. Und erklärt Graffiti für tot. Nicht als Politiker vor der Hauptstadtpresse, sondern als Ex-„Graffitist“, Philologe und Philosoph (oliverkuhnert.de; Vita) vor der Hauptstadt-Posse.

Abwehr durch Objektivierung

In der Wissenschaft ist der männliche Objektivitätsanspruch schon seit Jahrhunderten zu Hause. Quasi Heimspiel. Viele männliche Forscher tappen – Kuhnert würde sagen „marschieren“ – in diese heimelige Theorie-Falle der Universität und verweigern sich wie Kant und Kollegen kategorisch der Verschmelzung mit dem zu untersuchenden Objekt. Sie erklären es für tot. Inklusive TDOG-Totenschein. Damit es beim Sezieren ja bloß nicht zappelt, um sich schlägt oder vom Tisch springt. Verfluchte Innereien! Doch hören wir hin, was genau der TDoc (The Doctor aka TodesDoc) während der Graffiti-Sektion referiert und schauen ihm dabei von hinten über die Schulter direkt in den Mund. Wie lautet die Todesursache, Doc?

Graffiti-Gefühle

Schon bei leicht erhöhtem Substantivierungs-Aufkommen ist Vorsicht geboten. Kuhnert kennt da nix und kündigt gleich zu Beginn eine „Fundamentalkritik“ an, „die von Innen kommt und mit szenetypischen Fehlwahrnehmungen und Missständen ins Gericht geht“ (schöne Umschreibung für das unbekannte Graffiti-Gefühl: „fundamental“, „von Innen“, „Fehlwahrnehmung“, „Missstand“).

Todesurteil

Raus also aus dem Pathologie-Kittel und rein in die rote Robe der Justiz. Kuhnert will richten, nicht sezieren und analysieren. Vom Graffiti-Ganoven zum Gesetzeshüter. Mit höhnischer Freude schwingt Kuhnert geschlagene 18 Thesen lang den Substantiv-Hammer. Von oben herab, vom Richterpult. So kann er gut auf Distanz bleiben, Distanz bis zum Tod, zum Death. Kuhnert vollstreckt gern Todesurteile. Aus sicherer Entfernung. Heute also die „Graffitisten“ (aka Faschisten, Islamisten, Sadisten usw.), die alten Fundamentalisten! Zeit für „Fundamentalkritik“! Jetzt wird abgerechnet mit dem Graff-Pack!

Krise der Männlichkeit

Ferner habe ich den Eindruck, dass Kuhnert nicht recht zu sagen vermag, wozu der ganze Aufwand. Wieso 20 Jahre seines Lebens Graffiti und dann alles ein großer Fehler? Sicher nur eine Phase. Viel Frust und Klage statt Kritik und Argument. Die Kuhnert-Krise eben. Und zu einer guten Krise gehört zuallererst eine gesunde Abwehr, ein bisschen Hass, ein leichter Trotz. Weiß man ja. Muss man irgendwie durch. Ob Versöhnung möglich ist, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Für einen gelungenen Neustart wäre es ihm zu wünschen.

Close Reading

Zu Beginn vermutet Kuhnert die „Umkehrung der Ausgangsbedingungen“. Damals war Graffiti arm und dagegen, heute rich und dafür. KAAA – PI – TALISMUS / SCHAAA – LALA – LALA!! Fortwährend zu beklagen, Graffiti möge doch bitte die „Ordnung auflösen“, statt als „Parallelwelt [...] im Gleichschritt“ neben der „imagefixierten Konsumwelt“ her zu „marschieren“, bedeutet in erster Linie, dass Kuhnert selbst wohl endlich bereit ist, sich aufzulösen. Und aus der Reihe zu tanzen, statt einfach weiter im Gleich- und Stechschritt.

Show-Realität

Nach 20 Jahren! Raus aus der Show-Realität („Parallelwelt“) als Graffiti-Soldat und hinein in die Liebe, das Leben, das Gefühl. Breakdance, das wäre was für ihn. Kann er sich mal locker machen. Den soldatischen 'Körperpanzer‘ (Theweleit) aufbreaken, aufbrechen also. Leider verhält es sich mit Breakdance im Speziellen wie mit Subkulturen und Kapitalismuskritik im Allgemeinen: beide Dropse sind gelutscht; kann man nicht mehr ernsthaft machen; BOOOOORING!

Männerphantasien

Über die „Auflösung“ des männlichen Fragment-Körpers – siehe Kuhnerts „Körper- und Zerfallsstudien“ again – kommt Klaus Theweleit grandios und geistreich in den Männerphantasien (1977) zu sprechen. 40 Jahre später können wir nun – auch in TDOG – beobachten, wie der faschistische Männerkörper ein wenig aufbreakt, äh, bricht, und allerorten geheime Graffiti-Gefühle versprüht bzw. hinaus bombt, sprich: kontrollierte Detonation im Außen. Geheim, unlesbar und codiert, immerhin aber für alle weit sichtbar. Wenngleich der dazugehörige Mann zur Morgendämmerung schon auf und davon ist.

Masking Masculinity

Denn nachtaktive, verstohlene Männlichkeiten hinter Selbsthass-Masken agieren nicht länger tödlich, sondern passiv-aggressiv und semilegal. Wie irre werden weltweit Straßenzüge und Verkehrssysteme gebombt. Vorteil für die Gesellschaft: niemand kommt dabei zu Tode, die Häuser bleiben ganz und die Züge fahren weiter. Der Graffiti-Krieg war immer arg- und harmlos, nahezu gewaltfrei ja eh. Vor allem aber auch: feige. Die Graff-Boys stehen nicht zu dem, was sie tun. Sondern verschwinden so schnell wie sie gekommen sind.

Grifter = Gauner = Trickbetrüger

Aber das ändert sich allmählich. Kann sich nur noch um Jahrzehnte handeln. Manch einer wird mutiger, zeigt sich unmaskiert, am hellichten Tag. Und wirkt dabei blass, verunsichert, abgekämpft. Kann man gut beobachten an der zwiegespaltenen Männlichkeit von Graffiti-„Botschafter“ Boris aus Bulgarien (Grifters Code) und seiner Inszenierung als Kunstfigur, Kurator, Journalist und Bomber. Zitat von ilovegraffiti.de:

„Boris is a satirical fictional character presenting an eastern european with strong accent and poor english language skills. His humoristic Borat rip-offs, comments and behaviour have been already violating the social and graffiti taboos for a few years.“

Wenn Männer wie Boris schließlich hochgenommen werden (Frankreich 2014), spalten sie sich plötzlich in einen realen und einen „satirical fictional character presenting“ whatever; im Fall von Boris das Stereotyp eines Ost-Europäers.

Landgewinnung

Männer beanspruchen ganz unverhohlen rechtsfreie Räume, in denen der Rechtsstaat nichts zu suchen hat. Siehe dazu die diesjährige ‚Weimarer Rede‘ von Theweleit über Das All im Ball – Mit Wörtern spielen, mit Bällen spielen, Krieg spielen. Fußballextreme. (voller und toller Vortrag auf klaus-theweleit.de; Aktuelles, 29. März 2015). Nimmt man den Boys ihr Land wieder weg, beraubt man sie zugleich ihrer fragilen Identität. Ihre Körperpanzer brechen dann einfach auseinander. Vor laufender Kamera.

Feindbild 'Gesellschaft'

Zurück zu den Todes-Thesen. Next one: „Graffiti ist eher Spiegel und Stabilisator der Gesellschaft als subversives Zerrbild.“ Verzerrtes Körperbild, verzerrte Wahrnehmung. „Spiegel und Stabilisator“ sind notwendige Accessoires für negativistische Narzissten. Wenn nur die Gesellschaft nicht wäre! Gegen sie und ihren Money-Run hagelt es unentwegt Vorwürfe: „Wettbewerbs-, Leistungs- und Anhäufungsmentalität“; Graffiti als „konventionalisiertes Massen- und Alltagsphänomen“. Lirum Larum. Die Gesellschaft im Außen als Feind zu betrachten, sich selbst aber als subversiv, das scheint mir das eigentliche Dilemma zu sein. Wird Kuhnert noch eine Weile dran zu knabbern haben.

Epidemie

Jetzt aber der Hammer: „weltweite Graffiti Epidemie“! Wow! So empfindet er das also! Graffiti als Seuche, Infektionskrankheit, unsichtbare Bedrohung! Und reiht sich damit unbewusst ein in die Tradition der männlichen Inszenierung als Virus, Alien, Monster, Zombie, Reptil und Kreatur (nicht zu Ende geborenes Körperinneres) sowie als Superheld im Stahlgewand (Grad der Flexibilität und Aushärtung des Körperpanzers im Äußeren: Men of Steel, Iron Man, Ant Man etc.). Theweleit was so true! Quasi True 2 the Game!

Angst

Die Angst-Projektion läuft jetzt heiß. Natürlich als Substantiv-Gewitter: „nicht Artenvielfalt, sondern Vereinheitlichung“ / „Homogenisierung und Stagnation [...] statt [...] ästhetische Vielfalt und Weiterentwicklung“ / „kaum Avantgarde, kaum Nischengraffiti“ / „Einfallslosigkeit“ / „im Hamsterrad der Reproduktion gefangen“ / „einfallslose Wiederkäuer“ / „Konsensbrei“ usw. usf.

Passive Aggression

Der faschistische Männerkörper kann die Verdrängung im Innern einzig im Außen wahrnehmen – als „Brei“, als „Hamsterrad“, als „Wiederkäuer“ (Kuh-Nerd) – und bemerkt folgerichtig: die „ästhetische Gesinnung der Graffitisten ist [...] faschistoid“. Die Anderen, die Bösen, die da draußen! Die all das tun, was ich auch so geliebt habe! Alles Graffiti-Faschos! Kuhnerts Abwehr steht.

Er selbst schießt dahinter feige aus einem Versteck heraus. Bleibt in seinen Thesen lieber außen vor. Auf Distanz bis zum Death durch die Graffiti-Granate. Passive Aggression at its best! Müssen traumatische 20 Jahre für ihn gewesen sein, so verstört, wie er wirkt. Armes Kerlchen. Offenbar nichts für zarte Gemüter, diese Graffiti-Szene.

Schwarzmaler

„Bewahrung und Vereinheitlichung“ lassen „das einzelne Bild [...] zu einer Ansammlung stilistischer Klischees verkommen“. Are you serious? Ästhetisch arg unterfordert, der TDoc. Vielleicht mal raus aus Berlin, Mister Schwarzmaler. Schau dir die Stilettos von PSY, KLOAK und KATDOG aus Leipzig an, CPUK aus Frankfurt, Hamburgs RÄTSEL und RAGE, ROGER in Dresden!

Berlin nicht minder: BOSS, TAGS und HEIST! CLINT176 lässt sich wieder blicken! STAY (OBS), MAGIK (FLS), SHEM! PUSSY-Löscher-Tags all over! BAMBOO! PLANET! OASE! OBST! PEPS! ACTION! MOZER! Um nur einige zu nennen. Du beklagst das tausendste Proll-Graff, unterschlägst in deinem Zorn aber die unzähligen Leckerbissen. Weshalb so fahrlässig? So undifferenziert? Deine Beweise bleibst du uns schuldig! Bis dahin gilt jede deiner Thesen als Besen, jede Vermutung als Zumutung.

Endlösung

Zum Beispiel diese: „neue Strömungen [...] verflachen, statt konsequent zu Ende gedacht zu werden“. „Berliner Anti-Style“ und „Pariser Comic-Style“ hatten ihre Zeit, haben sie durchaus zu Nutzen gewusst und sich vor allem nicht reinreden lassen. Beide „Strömungen“ fließen bis heute durch viele Malerherzen. Und weigern sich glücklicherweise, „konsequent zu Ende gedacht zu werden“. Endlösung oder was?

Der wutschnaubende Körperpanzer Kuhnert konstatiert beflissen: „Das System Graffiti ist erstarrt.“ Und spricht doch nur zu seinem Spiegelbild: TDOG „mag eine existenziell-aktionistische oder eine psychologische Bedeutung haben, mehr aber auch nicht.“ Kuhnert weist hier den einzigen Gedanken in ganz TDOG weit von sich, dem zu folgen sich wirklich lohnen würde. Und favorisiert stattdessen „rein ästhetische Gesichtspunkte“.

May: „Rein ästhetische was?“

Kuhnert: „Gesichtspunkte!“

„Unter rein ästhetischen Gesichtspunkten ist jedes wiederholte Bild eines zu viel.“ Verhält es sich nicht vielmehr so, dass der Wiederholungs-Imperativ das ästhetische Moment erst hervorbringt? Für „Gesichtspunkte“ und gegen den „Graffitiprimitivismus“ zu wettern, erinnert mich zudem an die Rassenideologie der Nazis, die den jüdischen „Primitivismus“ mit eben solchen „ästhetischen Gesichtspunkten“ physiognomisch entlarven wollten, sprich: Schädelform. Schon interessant, wie sich das Nazi-Vokabular hier in Anti-Graffiti-Uniform wieder rein schleicht.

TGOD

„Widersinnig, wenn sich der Graffitist [...] in jedem Bild neu erfinden und seine Urheberschaft verschleiern wollte.“ Denn „verschleiert“ schafft er es nie bis rauf „in die Sphäre des Ästhetischen“! Vom Doc über den Richter jetzt also hinauf in den Olymp, in die Göttersphäre. Wo „nicht mehr der Graffitist [...] sondern das Schaffen selbst im Vordergrund“ steht.

Und wem allein gebührt die Macht, über Graffiti und „Graffitist“ zu richten? Das Gute vom Bösen zu trennen? Das/Den Hässliche/n vom Schönen? Der „genuin ästhetische Ansatz“ bzw. „das ästhetische Konstrukt“ von Kuhnert höchstselbst „empfiehlt sich“ da als „Idealbild“! Hat jemand zwecks Schädelform ein Photo von diesem Kuhnert? Oder von seinen Styles?

Mein Reich komme!

Nachdem Darth Kuhnert – Darth ist ein Portmanteau aus Dark und Death – im Graffiti-Todes-Stern das vermeintlich überholte Idealbild des Egoismus ganz unbescheiden durch sein eigenes ersetzt hat, kann die Willkür nun walten. „Andernfalls würde die ewige Wiederkehr des Gleichen triumphieren“.

Ließen wir allein Kuhnert entscheiden, was rollt und was sich besser trollt, verhielte es sich wohl ähnlich: man stelle sich die ideale Kuhnert-Welt vor, in der jedwedes Graffiti ohne Ausnahme als supergeiles, höchst anspruchsvolles und nie dagewesenes „ästhetisches Konstrukt“ brilliert. Allerorten führen ausschließlich absolute Knaller-Konstrukte durch Berlin und die Welt. Avantgarde-Styles, Offenbarungs-Bomben und Throw-Up-Happenings zierten die Wände, soweit das Kuhnert-Auge reicht.

Jedes Tag ein „Mentalitäts“-Bombast (Mantalität), jedes Graffiti eine neue Zeitrechnung, ein Paradigmenwechsel, die Weltformel. Plus absolute Selbstlosigkeit, Uneigennützigkeit und die totale Auflösung des Ich. Keinerlei Verweis auf Egoismen und „Graffitisten“.

Na, wie wäre das wohl?

Das wäre ööööööööööööde like hell! Denn ohne enorm viel Dummheit kein Staunen, kein Glücksgefühl. Ohne Stumpfsinn null Entzücken über herausragende Ideen und brillante Bilder. Und ohne Langeweile keine famose Performance, schon gar kein verstörender Plan, Revolution ja eh nich. Das Spitzenmäßige ist ohne all das Idiotische nicht zu denken. Das Geilste nix wert ohne das Mieseste, Billigste und Verdorbenste. Da steht ihr doch drauf!

TDOG als „Buff-Studie“

Angemerkt sei, dass ihr euch besagte Idealwelt nicht vorzustellen braucht. Auf oliverkuhnert.de könnt ihr direkt darin umher spazieren: viel blasses Grau und Schwarz, bleiches Rosa, blödes Gelb, blindes Blau; die Farben insgesamt sehr farblos. Ich sehe „geschundene Körper“, „Zerfallsstudien“, braune Käfer und gebuffte Wände. „Buff-Studien“? WTF!! Eher schnöde, die schöne neue Welt.

Weitere Thesen im Durchlauferhitzer

„Die Identität des Namens betont [...] die Unterschiedlichkeit der Bilder“? – Klare Antwort: oliverkuhnert.de!

„Graffitisten sind keine Widerstandskämpfer, sondern Selbstdarsteller“? – Seit der Berliner Anti-Style-Bewegung ist das nicht mehr haltbar.

Graffiti als „Inszenierung und Glorifizierung der eigenen Person“? – Nope. Korrekt wäre: „der eigenen Männlichkeit“.

„Geistig und seelischer Stumpfsinn der Arbeits- und Alltagswelt“? – Aus dem Klageliederbuch geplagter Männlichkeit. Gleich neben dem Männer-Klagehit: Feindbild Gesellschaft.

Das Bild „verkümmert“ zum „Klischee“ und „Instrument“? – Das einzige, was hier verkümmert, ist dein Liebesleben, Kuhnert! – „Das System Graffiti [...] als gigantischer Selbstbetrug“? Eher Flucht denn Betrug.

„Angst vor dem Verschwinden“ und „vor dem Tod“? – Also mal halblang! Bestenfalls vor der Bedeutungslosigkeit.

„Graffiti ist [...] Ausdruck von Individualismus“? – Apfelmus?

„Illusion von Ruhm und Selbstverwirklichung“? – For real, man!

„Graffiti zelebriert [...] das Ego“? – Party!

Hybris

„Graffiti ist nicht tot, es hat nie gelebt.“ Leben bedeutet für Kuhnert indes: „Freiheit, Kreativität, Innovation und persönliche Weiterentwicklung“. Wer das Archaische, Körperliche und Männliche leugnet, leugnet aber auch den eigenen Körper. Der propagierte Death ist hier ein ganz und gar körperlicher. Kuhnert versucht mit TDOG, sich seinen lästigen Graffiti-Körper sprichwörtlich von der Seele zu schreiben, sprich: Haut abziehen vom lebendigen Leib. Am liebsten gleich den ganzen Body in die Tonne und körperlos hinauf in „die Sphäre des Ästhetischen“. Ziemlich anmaßend, nicht nur dem eigenen Körper die Existenz abzusprechen, sondern der gesamten Graffiti-Geschichte gleich mit („hat nie gelebt“).

Normcore

In Todes-These Nummer Acht bezeichnet der TDoc Graffiti als „Verunreinigung“, „Zerstörung“ und „Gewaltakt“. Spätestens jetzt habe ich realisiert, dass Kuhnert mich in seine Spießerhöhle gelockt hat, wo er mich mit Worten zu betäuben sucht und unter tödlichen Thesen „begraben“ will – ebenfalls bei lebendigen Lektüre-Leib. Genau so, wie es ihm die Graffiti 20 Jahre lang angetan haben.

Hier wird TDOG ganz unverhohlen zum Racheakt. Denn Kuhnert höchstselbst ist der „Außenstehende“, der „nicht eingeweihte Normalbürger“, dem es heute absolut gegen den Graffiti-Strich geht, wenn „fremde und anonyme Kräfte“ den „öffentlichen Raum [...] beherrschen“. Und wieder kommen die innerpsychischen Spannungen des polternden Philosophisten (TDOG als Philo-Fist) im Außen als „Fremdkörper, Störung, Abweichung“ zur Aufführung. Für den Spießer kann alles zum Feindbild werden. Versöhnung ausgeschlossen. Graffiti muss sterben, damit Kuhnert leben kann. Ich bin frustriert. Wie viel Thesen denn noch?

Komalauf

Wenn Kuhnert mit Wortsalven in die sprühende Menge ballert, verhält er sich mit seinem Frust genau wie Mostefaï in Bataclan, Holmes in Dark Knight Rises oder Breivik auf Utøya. „Ein symbolischer Gewaltakt!“ Wie steht es wohl um den „Fame-, Kulissen- und Handhabungsfaktor“ von The Death of Graffiti? Zum Besten, will ich meinen. Graffiti für tot zu erklären bedeutet nicht zuletzt, auch sämtlichen „Graffitisten“ dieser Welt das Leben abzusprechen.

Kein Sterbenswörtchen (sic) über die Lust und die Launen einer gelungenen Action, nicht die geringste Erinnerung an die gemeinsamen Stunden allein mit Stift und Style, an die tausend Graffiti-Freuden im Kreis der Graffiti-Freunde. Nix. Nada. Nothing. 20 Jahre wohlgemerkt! Und doch spüre ich, dass Kuhnert Graffiti viel mehr zu verdanken hat, als er uns eingestehen will. Womöglich alles, was er heute ist? Schon irgendwie ein großes Gejammer, dieses TDOG.

Das Landesäußere und das Mannesinnere

Next one: Wenn alle Bomben gleich aussehen, wird der Ort als Unterscheidungsmerkmal umso bedeutsamer. Hier versucht Kuhnert zu trennen, was nicht zu trennen ist. Orte, Graffiti und Manneskörper bilden eine Einheit. Sie verschmelzen zu einem Stück innerer Gefühls-Landschaft: erobert, erkundet, bezeichnet und besprochen; eingenommen eben.

„Graffiti – Von Männern & Mauern“ (Youtube)

Hälfte hab ich. Elfte These. Hier beginnt er sich zu wiederholen und sehnt sich abermals nach einem „ganzheitlichen ästhetischen Denken“, indem jeder seinem Gegenüber selbstlos die „besonders begehrte Fläche“ gönnt, was Kuhnert als „menschlich“ und „ästhetisch“ empfände. Träum weiter! Next: „Bild, Untergrund und Maler sind ein und dasselbe.“ Ah, jetzt ist der Groschen gefallen! Die „Graffitisten greifen die Wände an“ und „werden“ selbst „zu diesen Wänden“. Ein wenig ungelenk, aber geh ich d'accord.

Wollt ihr den totalen Kuhnert?

Thesen 13 bis 17 habe ich oben im 'Durchlauferhitzer‘ untergebracht. Zu guter Letzt also These 18: „Die beiden Pole der Graffitiideologie [...] sind Totalitarismus und Anarchismus.“ Wie ein trunkener Matrose auf dem Holodeck kann Kuhnert in der Ferne deutlich zwei Pole erkennen, zwischen denen auch TDOG hin und her wankt. Süd- und Nordpol der Kuhnertschen Männlichkeit 2015: „Totalitarismus und Anarchismus“.

Wenn sich Kuhnert zuletzt und zum gefühlt hundertsten Mal von „totaler Öffentlichkeit“, totaler „Reglementierung“ und totaler „Kommerzialisierung“ umstellt sieht – die drei Totems im Kuhnert-Klima der totalen Angst –, ist er drauf und dran, Graffiti den „totalen Krieg“ zu erklären. Wer das nach sieben zähen Seiten noch immer nicht geschnallt hat, weil die Substantivierungs-Salven Gehirn samt Körper in einen tausendjährigen Tiefschlaf aka Koma aka Philosophie-Death geballert haben, dem sei verziehen, wenn er Kuhnert jetzt willenlos seinen Arm entgegenstreckt. Text-Terrorismus plus Kopfschuss, äh, Nuss.

Heil(iger) Kuhnert!

So ergeht es mir mit Kuhnerts „Abrechnung“ wie es Kuhnert mit Graffiti ging: ich empfand eine „anfangs schleichende und schließlich akute Entfremdung“. Ich habe mich auf konstruktive Thesen gefreut, stattdessen miese Laune auf der Anklagebank bzw. Klagebank. Jetzt fühl ich mich klagekrank. Weshalb so frustig, so humorlos, so freudlos? Warum so dickköpfig verhärmt?

Praxistest

Mann möchte jetzt natürlich gerne sehen, ob Kuhnert seinem hohen Anspruch selbst gerecht geworden ist in den 20 Jahren. Graffiti-Death hin oder her. Nunja, wahrscheinlich nicht. Sonst müsste ich nicht zwei volle Tage lang TDOG auseinander pflücken. Aber wäre trotz allem doch spannend, nicht wahr? Nur Geduld. Muss sich erst rumsprechen, was genau er gemalt hat. Auf den neuesten Berliner Writer-Klatsch ist Verlass!

Kindergarten

Bis dahin lohnt ein letzter Blick auf das sehr graue „Geburtstagsbild für meine Freundin“ (oliverkuhnert.de; Freie Arbeiten). Hätte wirklich zu gern ihr Gesicht gesehen! Oder auf die Ergebnisse seiner Abstraktions-Kurse für Grundschüler (ebd. Kurse). Bemerkenswert, wie Kuhnert hier Kinderzeichnungen zu abstrakter Malerei erklärt. Quasi „wider die Embryonalillusion“. Verklärt wäre wohl treffender.

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An dieser Stelle können Aspekte des obenstehenden Textes kommentiert werden. Solltest du eine ausführlichere Replik auf den Originaltext von Oliver Kuhnert einsenden wollen, bitten wir dich, diese an hello@possible-books zu verschicken.

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