The Death of Graffiti

Graffiti – Metagraffiti – Transgraffiti

Joachim Penzel

Um es vorweg zu nehmen: Ja – Graffiti ist tot. Aber – es lebe das Graffiti! In diesem Sinne soll im Folgenden zwar grundsätzlich der kritischen Bestandsaufnahme von Oliver Kuhnert zugestimmt, allerdings auch deutlich widersprochen werden. Es gibt Todgesagte, die sich wie Phönix aus der Asche erheben, die man aber nach dem läuternden Transformationsprozess kaum noch wiedererkennt. Graffiti gehört unbedingt dazu! Diverse Formen selbstorganisierter Streetart sind, so die These dieses Textes, für die Zukunft der transmodernen Gesellschaft, insbesondere für das Erscheinungsbild des öffentlichen Raums unentbehrlich. Mittlerweile hat sich ein Teil der Graffiti-Szene aus den in These XII und XIII von Kuhnerts Text beklagten Prinzipien von Egoismus und Nihilismus verabschiedet und eine neue Form von Graffiti hervorgebracht – nämlich das, was ich hier als Transgraffiti diskutieren werde. Um dessen Prinzipien besser zu erkennen, lohnt ein Blick auf die bisherige Entwicklung.

Graffiti und Metagraffiti – Ein Blick zurück und einer auf die Gegenwart

Überblickt man die historisch-kritischen Bestandsaufnahmen von Graffiti (Stahl 1989, 2002, 2009) dann können drei grundsätzliche Spielarten unterschieden werden: Graffiti als Teil der politischen Protestkultur im 20. Jahrhundert, als Teil jugendlicher Subkultur und als Strategie avantgardistischer Kunst. Die erste Form wird solange existieren, wie politische Minderheiten gegen restriktive Mehrheiten oder totalitäre Regimes opponieren. Graffiti gehört zum traditionellen Waffenarsenal jeder revolutionär ambitionierten Guerilla und das vor allem in Staaten, in denen die öffentliche Meinung einer strengen Zensur unterliegt. In den Wohlstandsdemokratien der westlichen Welt hat sich das politische Engagement von Graffiti derzeit auf die Thematisierung von Überwachungsstrategien im öffentlichen Raum, auf die Kritik an Privatisierungs- und Gentrifizierungspraktiken sowie die Eventisierung urbaner Räume, aber ebenso auf die Kritik an rechtsextremen Gesinnungen verlegt. Allerdings gehen diese wenigen aufklärerisch ambitionierten Ansätze in der Masse des Mainstreamgraffiti eher unter.

Mit Mainstreamgraffiti bezeichne ich die zweite, also die subkulturelle Erscheinungsform. Diese war in den frühen 1980er-Jahren entstanden, um dem spezifischen Lebensgefühl von Jugendlichen im Kontext von Hip Hop und Breakdance eine adäquate Bildästhetik zu schaffen. Dieser Kunstsparten übergreifenden Gemengelage verdankt sich auch jene charakteristische semantische Leerheit der verwendeten Zeichen der Writings. Programmatisch wurden in den Pieces einzelne Worte oder Buchstaben monumentalisiert, die dem Szenejargon entstammten und die wie Wiedererkennungsparolen in der Öffentlichkeit fungierten. Die konkreten Botschaften waren austauschbar, kam es doch auf den „geilen“ Stil an, den man als atmosphärisches Äquivalent zum Sound in der Musik und zu den B-Boying-Positions im Breakdance bezeichnen kann. Diesen intermedialen Zusammenhang hat Sally Banes bereits 1981 in dem Artikel „Physical Graffiti“ betont. Seit dieser Zeit gilt für Graffiti das Prinzip „Style is the Message“ (KMR 2013). Egal mit welcher Subkultur, mit welcher Musik- oder Tanzrichtung sich die urbane Wandmalerei verbindet, sie ist zuerst Ausdruck eines spezifischen, in der Regel jugendlichen Lebensgefühls. Sie ist in Bildform artikulierte Emotion. Solange die Unterscheidung von „High- and Low-Culture“ soziale Relevanz hatte, konnte man jeder Form der subkulturellen Zeichenmanifestation im öffentlichen Raum auch ein gewisses Protest- und Emanzipationspotential zugestehen, ging es, ob beim illegalen Sprühen oder beim unberechtigten Plakatieren, doch immer auch um soziale Anerkennung von Minderheiten und eine ästhetische Attacke auf den guten Geschmack der gesellschaftlichen Mehrheit. Innerhalb einer postmodernen Toleranzgesellschaft hat die Unterscheidung von „High- and Low“ aber keine Bedeutung mehr; die im Generationentakt sich wandelnden Subkulturen gehen in der Buntheit von Multikulti auf. Diese Situation ist nicht nur unvermeidlich, sondern stellt, wie am Ende dieses Artikels deutlich werden wird, einen entscheidenden sozialen Entwicklungsschritt dar. Dass Graffiti seit einigen Jahrzehnten zum ästhetischen Mainstream der Postmoderne gehört, haben zahlreiche Sprayer bislang nicht realisiert. Allerdings muss man diesen Zustand nicht wie Oliver Kuhnert beklagen, denn es ist die Aufgabe popkultureller Erscheinungen, Lebensgefühle zum Ausdruck zu bringen und nicht etwa Selbstbeobachtung im Sinne von Kritik zu produzieren.

Da subkulturelles Graffiti ein offenes, informelles Sozialsystem darstellt, das sich temporär selbst organisiert und über keine fixe institutionelle Infrastruktur verfügt, konnte sich eine kanonische Form der Kritik, die der Selbstbeobachtung der Graffiti-Praxis dient, nicht etablieren. Diese Selbstbeobachtung, die einerseits eine Komplexitätssteigerung des informellen Systems ermöglicht und andererseits neue Ausdrucksmöglichkeiten erschließt, leisten allerdings einige Sprayer direkt in Bildform. Ich bezeichne diese Erscheinungen als Metagraffiti, das heißt als Graffiti, das mit ästhetischen Mitteln über Graffiti reflektiert (Penzel 2007, 2012). Der hierbei zu beobachtende Import reflexiver Strategien aus der Kunst in die Subkultur etabliert eine dritte Art von Graffiti, nämlich die künstlerische. Dieser geht es nicht mehr um die emotionalisierende Kraft des Stils, sondern um die Schaffung visueller Irritationen, mit denen die unterschiedlichen ästhetischen Aspekte und sozialen Strukturbedingungen von Graffiti reflektiert werden. So gibt es Beispiele, die den charakteristischen Stil der Pieces stören und dabei dekonstruieren; andere, die die Farbe als Medium thematisieren und diese bewusst antiästhetisch einsetzen; Ansätze, die den Körper der Sprayer und dessen Bewegungsverhalten im Raum sichtbar machen; Arbeiten, die die Bedeutungsleerheit, also die semantische Hohlheit von Mainstreamgraffiti parodieren; außerdem Writings, in denen die Anonymität der Sprayer verhandelt wird; Bilder, die ihren urbanen Kontext reflektieren und grenzüberschreitendes Graffiti, das Verbindungen mit Tanz, Theater und Musik im Sinne von Mixed-Media praktiziert oder Werke, die das Publikum zur Interaktion auffordern. Derartige Arbeitsweisen von Metagraffiti sind meiner Erfahrung nach erst nach der Jahrtausendwende zu beobachten. Damit holt das offene System Graffiti jene Formen der Selbstbeobachtung nach, die im Bereich der Bildenden Kunst in den 1960er-Jahren bis in die 1990er-Jahre praktiziert wurden und die seither unter Begriffen wie radikale Malerei, ästhetischer Dekonstruktivismus, institutionskritische Kunst und Kontextkunst verhandelt werden. Die Anleihen von Metagraffiti aus diesen Kunstsparten ist oft deutlich spürbar; manchmal haben die Protagonisten ein Studium an einer Kunstakademie absolviert. Das Potential von Selbstthematisierung liegt aber nicht nur in der kritischen Reflexion der eigenen medialen und sozialen Bedingungen, sondern ebenso in der daraus resultierenden Verschiebung der Arbeitstechniken, der Kontexte und der Bildästhetik (Überblick in Stratmann u.a. 2007, Mai/ Wiczak 2007). Die interessantesten Arbeiten von Metagraffiti erreichen manchmal trotz einfacher künstlerischer Mittel eine derartige Komplexitätsbündelung, dass eine hybride Betrachtung möglich wird, mit der Graffiti im Kontext sozialer Veränderungen der Gegenwart reflektiert werden kann. Das soll der folgende Exkurs auf das Piece „EGO“ verdeutlichen, das sich seit einigen Jahren in variierender Form in verschiedenen deutschen Städten und im ländlichen Raum findet.

Graffiti als jugendkulturelles Initiationsritual des Kapitalismus

Zweifellos zielt diese Monumentalisierung des lateinischen Wortes ego auf eine Grundsatzkritik jener Ich-versessenen Gegenwartsgesellschaft. In einer Welt der bis zur Unübersichtlichkeit gesteigerten kulturellen Vielfalt ist das souveräne Ich der kleinste gemeinsame Nenner aller Menschen und verkörpert zugleich den höchsten sozialen Wert. Selbstbestimmung auf der Grundlage persönlicher Freiheit bildet die Basis demokratischer Gesellschaften. Das autonome Ich und die mit ihm verbundene Selbstorientierung entsprechen Transzendentalien der Moderne, die den traditionellen Gottesbegriff ersetzt haben. Die Grenzen dieser Ich-zentrierten Gesellschaftsordnung sind zumindest in der westlichen Welt der Gegenwart offenkundig. Die Fixierung auf das Ich und die eigenen Interessen hat zu einer Erosion kollektiver Bindungen, zum Verlust von Verantwortung und Solidarität geführt, in deren Folge eine „Tyrannei der Intimität“ entstanden ist, die Richard Sennett bereits in den 1980er-Jahren diagnostiziert hat (Sennett 1986). Das Ego wandelt sich im Laufe der Postmoderne vom Ideal der Demokratie zu dessen Wahnbild, denn das egoistische Selbst ist kein zoon politikon mehr, also kein Mensch, der sich für die Gemeinschaft aufzuopfern bereit wäre, sondern der die Gesellschaft für die eigenen Interessen instrumentalisiert. Vor diesem Hintergrund kann man das Piece „EGO“ als kritische Ikone der Gegenwart deuten – es zeigt uns die monströse Gottheit, der sich die soziale Mehrheit unterworfen hat. Man kann dieses gesprühte Wandbild aber ebenso als Fundamentalkritik an Graffiti selbst lesen.

Das systemimmanente Problem von subkulturellem Graffiti ist die Illusion, den Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln schlagen zu wollen, nämlich durch anarchische Raumaneignung und durch piratenartige Besetzungen öffentlicher Wände, die sich als Kommunikationsfläche eignen. Graffiti attackiert zwar die gesellschaftlich sanktionierten Eigentumsverhältnisse, ändert diese aber nicht, sondern verwendet sie lediglich für eigene Interessen. Tatsächlich gibt es keinen Unterschied zwischen einem Hausbesitzer, der seine Fassade als Teil seines ökonomischen Kapitals schützen will, und einem Sprayer, der sich dort mit dem Ziel einschreibt, symbolisches Kapital in Form öffentlicher Aufmerksamkeit zu erlangen. Es geht jeweils um das Abstecken von privaten Claims, bei denen sich urbaner Grundbesitz und die Verfügbarkeit des Mediums Stadt überlagern.

Das Piece „EGO“ verweist auf die soziale Tragik von Graffiti. Das kapitalistische System gründet nicht nur auf der Idee des Eigentums, sondern der damit verbundenen Idee des souveränen Individuums. Beide Grundwerte sind – wie der Begründer der Integralen Theorie Ken Wilber gezeigt hat – evolutionsgeschichtlich zur selben Zeit entstanden und miteinander unauflösbar verbunden (Wilber 1981). Privatbesitz sowie individuelle Arbeits- und Kreativitätsressourcen begründen die Wirtschaftsbasis des Kapitalismus. Unter dieser Perspektive kann man alle Formen von subkulturellem Graffiti auch als Rites de Passage, also als Initiationsritual begreifen, mit dem kreative Jugendliche sich selbst fit machen für den Dschungelkrieg des Kapitalismus, in dem jeder gegen jeden kämpft. Tatsächlich ist also das Besprühen von Wänden mit egoistischen Losungen Zeichen eines falsch verstandenen Freiheitsbegriffs. Die ästhetische Attacke auf die private oder die öffentliche Wand führt nämlich keinesfalls zur Befreiung von den ökonomischen Zwängen des etablierten Wirtschaftssystems, sondern bestätigt dieses in tautologischer Weise. Für kurze Zeit hat der Sprayer im semiologischen Konkurrenzkampf triumphiert und sich somit wider Willen als kapitalistisches Subjekt behauptet. Derartige Verstrickungen verdeutlichen nicht nur den fundamentalen Mangel an Reflexionskompetenz innerhalb des Mainstreamgraffitis, sie zeugen auch von den tatsächlichen Motivationen der meisten Sprayer, nämlich einem überproportional entwickelten Narzissmus, der den einzelnen ermächtigt, Wertesysteme der Gemeinschaft und die Interessen seiner Mitmenschen zu negieren. In verschiedenen Forschungen hat Ken Wilber gezeigt, dass der verbreitete Egoismus in Verbindung mit narzisstischer Regression jenen postmodernen Nihilismus hervorgebracht hat, in dem jeder zum radikalen Verfechter der eigenen Lebensinteressen wird (Zusammenfassung Wilber 1999).

In der bisherigen Form entspricht Graffiti also keiner Rebellion gegen das kapitalistische System, sondern betreibt dessen lustvolle Bestätigung. Eine tatsächliche Alternative kann nur der konsequente Ausstieg aus der Aneignungslogik von Geld, Raum, Zeit, Arbeitskraft, Technik und Zeichen bringen, und das setzt zuallererst einen Ausstieg aus der Individualismus-Ideologie des Westens voraus. Der wirtschaftlichen Verwertung des Subjekts kann nur durch eine konsequente Ethik der Kollektivität entgegengewirkt werden. Dabei sollte Privateigentum anerkannt werden, aber dessen Mehrung, sei es als materielles Kapital (Geld, Besitz) oder als symbolisches Kapital (Ruhm, sozialer Status, öffentliche Sichtbarkeit) sollten nicht mehr als Hauptziel des individuellen Handelns gelten. Für Graffiti würde diese Perspektive entweder das definitive Ende bedeuten oder die Transformation in eine neue ästhetische und soziale Qualität erfordern. Auch dazu gibt es, wie abschließend zu zeigen ist, erste überzeugende Ansätze.

Transgraffiti – Auf dem Weg in eine transkapitalistische Gesellschaft

Bei der Diskussion über Graffiti erscheint mittlerweile eine Betrachtung von dessen Produktionsbedingungen fruchtbarer als ein Blick auf die Ästhetik seiner Oberflächen (den Stil) oder die in Bild- oder Textform vermittelten konkreten Botschaften. Seit gut zehn Jahren ist zumindest in Deutschland zu beobachten, dass zunehmend öffentliche Institutionen und Wirtschaftsunternehmen, aber auch einzelne Hausbesitzer Wände für die Sprayer zur Verfügung stellen. Kommunen finanzieren Graffiti-Festivals, öffentliche und private Sponsoren unterstützen die Organisation derartiger Events. Diese Entwicklung ist Ausdruck einer Entkriminalisierung von Graffiti und Indiz eines fundamentalen Wandels im Umgang mit öffentlichem Raum. Zwar sind es weiterhin Gesetze, die privates und öffentliches Eigentum schützen, die eine Überwachung urbaner Räume ermöglichen und in dieser Weise soziales Verhalten an diesen Orten reglementieren, aber das Erscheinungsbild städtischer Straßen und Plätze ist mittlerweile zum Verhandlungsgegenstand unterschiedlicher Interessen geworden. Es gibt einen breit angelegten Diskurs, in dem zunehmend mehr Menschen Mitbestimmung und Mitgestaltung über öffentliche Orte einfordern und diese auch erhalten. Es gehört zur Grunderfahrung postmoderner Stadtplanung, dass eine ästhetische Neugestaltung nicht gegen den Geschmack künftiger Nutzer, Bewohner und Konsumenten durchgesetzt werden kann. In diesem Zusammenhang kommt Graffiti eine Schlüsselposition zu – es repräsentiert nicht mehr nur die Intentionen einzelner Sprayer, sondern ist Ausdruck des Lebensgefühls einer ganzen Generation und vertritt damit einen signifikanten Anteil jeder Stadtbevölkerung.

Man kann diese neue Situation öffentlicher Toleranz gegenüber Graffiti skeptisch oder optimistisch beurteilen. Unter einer kapitalismuskritischen Perspektive mag man hier Versuche der Vereinnahmung sub- und jugendkultureller Erscheinungen für kommerzielle Interessen sehen. In dieser Betrachtung würde die gezielte Bereitstellung urbaner Sprühzonen als subtile Form der Überwachung der urbanen Graffitiszenen zu bewerten sein. Im Sinne des Soziologen Ralf Dahrendorf zeigt sich hierbei, wie deviantes, also von der gesellschaftlichen Norm abweichendes Verhalten durch dessen Integration in den Mainstream entschärft wird (Dahrendorf 1992). Aber ein solches pessimistisches Urteil greift zu kurz, weil es mit dem Fokus auf Kontrolle den Zugewinn an Freiheit aus dem Blick verliert. Diese durch eine teilweise Legalisierung ermöglichte Freiheit ist tatsächlich Ausdruck einer sich fundamental verändernden Gesellschaft. Der etablierte Kapitalismus befindet sich in einem zweifellos langsamen, aber stetigen Wandlungsprozess zu einer neuen, transmodernen Verfasstheit. Diese zeigt sich an diversen selbst organisierten Unternehmungen in allen sozialen Bereichen (Wirtschaft, Politik, Bildung, Kultur, Gesundheit, Religion). Unabhängig von ökonomischen und das heißt in erster Linie von egoistischen Interessen übernehmen immer mehr Menschen Verantwortung für konkrete Projekte, die von temporären oder dauerhaften Interessengemeinschaften initiiert werden. Gegen den Trend des übermächtigen Wirtschaftsliberalismus – und durchaus im Sinne einer handlungsorientierten, dabei dezentralen Protestbewegung – organisieren sich immer häufiger Interessenkoalitionen und Kooperationen mit gemeinsamen gesellschaftlichen Gestaltungsabsichten. Diese erhalten mittlerweile auch im öffentlichen Raum der Städte ihren legalen Ausdruck. Graffiti entspricht einer solchen selbstorganisierten Form der Mitgestaltung einer sozialen Gruppe am ästhetischen Erscheinungsbild des Öffentlichen; Urban Gardening oder Sportification-Aktionen sind vergleichbare Versuche, städtischen Raum mit selbstorganisiertem Engagement zu beleben. Meist sind es temporäre Partnerschaften, strategische Kollaborationen und interessengeleitete Kooperationen, die ein Zustandekommen derartiger Projekte ermöglichen.

Vor diesem Hintergrund muss man feststellen, dass öffentlicher bzw. privater Wandbesitz und das Besprühen vorhandener Flächen heute nicht unbedingt mehr einen Widerspruch darstellen. Das verdeutlicht aufs Eindrücklichste das in Halle an der Saale seit drei Jahren organisierte Großprojekt der Freiraumgalerie. Auf Vorschlag einiger Graffiti-Protagonisten wurde seitens einer ortsansässigen Wohnungsgesellschaft und der Stadtverwaltung ein ganzes urbanes Quartier zur legalen Sprühzone erklärt. Für die Ausrichtung eines internationalen Graffiti-Festivals, auf dem die Fassaden ganzer Straßenzüge umgestaltet wurden, stellten das lokale Kulturamt, die Landeskunststiftung Sachsen-Anhalt und einige Unternehmen des Stadtteils die erforderlichen Mittel und die technische Infrastruktur bereit. Vorab und während des Festivals fand ein intensiver Dialog mit den Bewohnern statt, der die erforderliche Toleranz und ein grundsätzliches ästhetisches Verständnis für diese unkonventionelle Neugestaltung des Quartiers geschaffen hat. Bei derartigen Aktionen treten die Sprayer nicht mehr als Anarchisten im nächtlichen Kampf gegen die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse an. Statt dessen bewegen sie sich aus der Anonymität heraus und gehen verbindliche Beziehungen mit Hausbesitzern und Bevölkerung sowie rechtlich abgesicherte Kooperationen mit Finanzpartnern ein. Der den Sprayern der subkulturellen Graffitiszene eigene anarchische Gestus hat sich hier zum Prinzip der Verantwortung für die Neugestaltung eines Stadtteils gewandelt. In der Folge hat der Wegzug aus dem unattraktiven Quartier nachgelassen und die äußerst heterogen gestalteten Straßenzüge gehören heute zum obligatorischen Sightseeing-Programm durch die Saalestadt.

Das Hallesche Beispiel verdeutlicht, dass Graffiti heute eine andere soziale Ausgangssituation besitzt als vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren. Eine pluralistische und tolerante Kultur erfordert andere Reaktionen von den Sprayern. Wollen sie die kapitalistische Logik des souveränen Egos und der privaten Eigentumsverhältnisse tatsächlich überwinden, müssen sie sich auf einen verantwortungsvollen Dialog mit ihrer Umwelt einlassen. Die Selbstbezüglichkeit der Szene weicht dann einer Kooperation mit unterschiedlichen Partnern. Der Spiritus Rector der Integralen Theorie Ken Wilber sieht in den diversen selbstorganisierten urbanen Bewegungen der letzten Jahrzehnte eine neue Entwicklungsqualität in der Geschichte der Menschheit. Der von einer zunehmend wachsenden Bevölkerungszahl, zumindest in der westlichen Welt, praktizierte „universelle Pluralismus“ geht mit der Bereitschaft einher, partikulare und individuelle Ziele zurückzustellen und Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Diese wird aber nicht mehr, wie in hierarchisch gegliederten Gesellschaften, zentral eingefordert, sondern entsteht situations- und projektbezogen als „good-will-action“. Unter den Bedingungen eines nach wie vor kapitalistisch firmierten Wirtschaftssystems entstehen hier erste Ansätze einer transkapitalistischen Gemeinschaft. Wollen die Graffiti-Künstler in Zukunft an dieser Entwicklung teilhaben, wird sich ihre Mentalität grundsätzlich wandeln müssen.

Die Graffiti-Malerei der Zukunft heißt Transgraffiti, das heißt, es geht über die bisherigen Vorstellungen und Praktiken des illegalen Sprühens im urbanen Raum hinaus. Transgraffiti misst man nicht mehr an seinem Stil (= subkulturelles Graffiti), seinen Botschaften (= politisches Graffiti) oder seinem Reflexionspotential (= Metagraffiti), sondern seiner Bereitschaft, mit Interessenpartnern in der Öffentlichkeit möglichst nachhaltig zusammenzuarbeiten. Die neue Graffiti-Identität gründet auf dem Prinzip der sozialen Verantwortung.

Literatur

  • Dahrendorf, Ralf: Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit, Stuttgart 1992
  • Freiraumgalerie (Hrsg.): Freiraumgalerie - Stadt als Leinwand. Halle 2015
  • KMR, Ozam: Style is the Massage. International Graffiti, o.O. 2013
  • Mai, Markus und Wiczak, Thomas: Das Gedächtnis der Stadt schreiben, Berlin/New York 2007
  • Penzel, Joachim: Metagraffiti – oder: Eine neue semiologische Guerilla, in: Mai, Markus und Wiczak, Thomas: Das Gedächtnis der Stadt schreiben, Berlin/New York 2007, S. 127 f.
  • ders.: Metagraffiti, in: ders. (Hrsg.): BILD SEIN. Künstlerische Modelle des Sehens, Zeigens und Denkens, Halle 2012, S. 136-141
  • Stahl, Johannes (Hg.): An der Wand. Graffiti zwischen Anarchie und Galerie, Köln 1989
  • ders.: Graffiti, in: Butin, Hubertus (Hrsg.): DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln 2002, S. 107-110
  • ders.: Street Art, Köln 2009
  • Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt 1986
  • Stratmann, Willem/Walta, Akim/Nabi, Adrian (Hrsg): Backjumps – The Live Issue, #3. Urbane Kommunikation und Ästhetik, Berlin 2007
  • Wilber, Ken: Halbzeit der Evolution. Der Mensch auf dem Weg vom animalischen zum kosmischen Bewusstsein, Frankfurt am Main 1996 (engl. Original: Up From Eden: A Transpersonal View of Human Evolution, Boston 1981)
  • ders.: Einfach „Das“. Tagebuch eines ereignisreichen Jahres. Frankfurt am Main 2001 (engl. Orig.: One Taste. The Journals of Ken Wilber, Boston 1999)

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