The Life of Graffiti
Lieber OK.,
in diesem Herbst ging ich mit R. auf die Gleise am Nordbahnhof ^1^, wo ich zum ersten Mal im Sommer 1990 mit O. malen war. Das ehemalige Abstellgleis ist verfallen. Eine der alten Einstiegshilfen für Züge steht noch da, derselbe Betontisch, hinter dem ich mich schon als 16-Jähriger verstecken konnte. Wir mussten leider gehen, es regnete in Strömen.
R. ist umtriebig: Er nimmt sich Kohlrouladen und Kartoffelbrei zum Malen mit oder springt bei Minusgraden in die Spree. E., F. oder C. sind auch Vollzeit angestellt: fahren kilometerweise mit Leitern und Eimern am Lenker herum und lesen Fahrpläne wie Professoren. Vergangenen Sommer zeigten mir D. , O., T. und Ch. einen Abwassertunnel in Zehlendorf 1, der voll mit Schlick und Faulgasen war. Hunderte Spinnennetze klebten an den Wänden, in eines war ein süßer Spatz gewickelt. Der Buschgraben verjüngt sich irgendwann. Die Böschungen zu beiden Seiten grenzen an gepflegte Gärten und Villen. Dieselben Böschungen endeten in den 80ern in Wäldern aus Unkraut und dichten Gewächsen. T. fällt wieder ein, dass er hier schon als Kind gespielt hat. Mit T. ging ich vor einigen Jahren unter die Brücken am Flughafenfeld Tempelhof 1. Im Gebüsch lag sein verlorener, von Moos überwachsener Rucksack. Sein 15 Jahre alter Schlüsselbund war zu einem Klumpen Rost zusammengewachsen. Er hat sich gefreut. T. ist Ästhet: Er kann 2 Stunden unter Laubhaufen liegen oder 4 Stockwerke tief in die Erde klettern und dabei die ausgetretenen Quarze bewundern. Manchmal verbringt er Stunden damit, mögliche Windrichtungen und Wolkenformationen zu berechnen.
Mit F. war ich viel nachts unterwegs. Es war diesen Sommer so heiß gewesen, dass unsere Polo-Hemden auf der Haut klebten. Wir kletterten an dürren Bäumen auf Dächer oder malten in gefluteten Auffangbecken. In Reinickendorf habe ich mit F. vor kurzem unterirdische Gänge und Zimmer mit Betten entdeckt. Irgendwo da unten ist eine riesige Maschine, die arbeitet und Wasser, aber wir haben noch keinen Zugang gefunden. F. und C. sind Snobs2. Sie malen nur an Stellen, an denen nie jemand vorbei kommen würde. Zusammen mit E. sind wir deshalb wieder ins Elbsandsteingebirge3 gefahren. Wir sind tief in eine Höhle gelaufen und haben gemalt und viel getrunken4. E. trug einen Ganzkörperanzug aus Federn und Pigment-Klumpen. Am Ende der Höhle befindet sich ein kleiner Gang, er endet nach zehn Metern. Man kriecht auf dem Bauch hinein und ist wie ein Salatblatt zwischen den Tonnen Gestein. Zwei Wochen später lag ich mit Fieber im Bett und fantasierte, wie ich wieder in der Höhle wäre und aus großen Eimern flüssige Kreide auf die Felsen rieb. Am Ende sah die Höhle wie eine hell erleuchtete Wohnung aus5.
Für E. ist alles Heimat: Mit ihm hatte ich oft Verabredungen zum Malen, die meist schon vorher in absoluter Zwangslosigkeit endeten. Seltsamerweise war dabei immer Essen im Mittelpunkt. H., der mit E. gut befreundet ist, hat diese Erfahrung auch gemacht und gesagt, es wäre normal. (Mit H. kommt man immerhin direkt vor die Wand. H. beschäftigt sich dann überwiegend mit dem Betrachten von Dingen, rennt herum oder füllt Zeug in mitgebrachte Tüten.) In Moabit kann man nachts auf den Gleisen den zahnlosen Muskelmann6 treffen, in Neukölln schläft der Brückenmann in einem Betonschlauch und hat einen guten Geschmack für Bücher (RMM.).
In diesem Sommer strich ich Fassaden an. In den Pausen saß ich auf den Dächern der Plattenbauten in Hönow und Hohenschönhausen. Man kann sich von dort oben über vieles wundern7. Der alte Ch. erzählte mir, dass er mitgeholfen hatte, die Platte hochzuziehen. Sie hätte sich seit damals nicht um einen Millimeter verschoben. Tatsächlich gab es neben der Wohnung der ehemaligen Sekretärin8 von MH. einen Spalt zwischen zwei Gebäuden, der bis zum neunten Stock immer vier Zentimeter breit bleibt. Durch den Spalt zischt die Luft wie ein Fluss.
Wenn ich aus meinem Fenster schaue, stehen die Bäckersfrauen in ihrer Pause an der Ecke im Kreis, quatschen, paffen und lachen. In diesem Herbst standen sie unter quietschgelben und knallroten Bäumen. Ihre türkisen Schürzen und Paff-Wölkchen waren wie in frischem Öl gepinselt.
An den Uferhallen erzählte mir T.K., seitdem er nicht mehr malte, wäre er ein besserer Maler geworden. Ich bekam einen Anfall und wir stritten uns. Heute glaube ich immer noch, dass er im Unrecht ist, beneide ihn aber sehr um diese Erkenntnis9.
Alles Gute, MM.
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20 Jahre Gast und nichts davon zu sehen ↩
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Wanderbecken Rudow, Borsig-Trasse, Kiste 1976 mit Briefen an Fr. H. (Brotfabrik Siemensstrasse, 30 Ratten springen wie Raketen aus verschimmelten Mehleimern) ↩
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Siebenschläfer bummern unter den Dielen, T. bricht sich einen riesigen Stalaktit heraus und trägt ihn zwei Tage auf dem Rücken herum, E. formt Kästen, immer Schichten auf den Händen wie abplatzende Baumrinden ↩
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„Das Benehmen der Besoffenen ist zu wenig aufsehenerregend. Die Passanten finden die torkelnden Schritte der Besoffenen lustig und versuchen sie nachzuahmen. Schade, dass die Besoffenen nicht gewalttätiger sind. So nimmt sie ja niemand ernst. Die Besoffenen ziehen sich in ihr Privat- leben zurück. Sie verkraften ihre Rolle als Propheten nicht.“ JM. ↩
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Am Beispiel vom Italien-Restaurant (Liebesgrotte) ↩
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Knast-Tattoos (Perverser), beruhigt sich wieder, wenn man Bier mitbringt, kann im Dunkeln nicht gut sehen, hat sich den Raum unter der Treppe mit Pappen und Holz dicht gemacht ↩
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Ab Marzahner Promenade bis Louis-Lewin-Strasse nur Blöcke, Gefühl wie beim Riesenrad: hinter die Buden gucken ↩
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hat sich zwei große Findlinge vor ihre Wohnung legen lassen, damit Kinder nicht nerven ↩
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Roots: RB., die gerade in einer New Yorker Nervenklinik einsaß, antwortete BB. auf seinen Versuch, sie herauszuholen: nur, wenn alle anderen auch frei gelassen werden. ↩
An dieser Stelle können Aspekte des obenstehenden Textes kommentiert werden. Solltest du eine ausführlichere Replik auf den Originaltext von Oliver Kuhnert einsenden wollen, bitten wir dich, diese an hello@possible-books zu verschicken.
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