The Death of Graffiti

Graffiti - eine enttäuschte Liebe?

Bianca Ludewig

Ich musste beim Lesen von TDOG an Nicole Zepters Text „Kunst hassen“ denken, der den Untertitel „eine enttäuschte Liebe“ trägt. Zepter sagt: „Hass ist ein emotionales Thema. Und es ist begleitet von der Angst. Von der Angst vor einem Verlust dessen, was man liebt.“1 In der Kunstwelt, so Zepter, kokettiert man mit Kritik und politischen Aussagen, aber letztendlich ist es „ein Mitmachen, ein Miteinander, das auf eine Aussprache verzichtet.“2 Kunst muss gehasst werden, weil es sonst keiner macht. Kuhnert und Zepter problematisieren eine Entfremdung zu ihrem Gegenstand und wollen Missstände thematisieren. Beide wollen im Idealfall eine Reflektion und Diskussion anregen. Und sie entscheiden sich für einen subjektiven Weg und verzichten ganz oder vorwiegend auf Referenzen. Für Zepter, und ich denke ebenso für Kuhnert, ist es ein Aufruf an alle Beteiligten, endlich wieder eine Haltung zum Gegenstand zu entwickeln, denn das geschäftige Treiben maskiert einen Stillstand. Ihre Texte zusammenzubringen macht für mich Sinn, auch weil der Einzug von Graffiti in die Kunstwelt, eine wesentliche Herausforderung für Graffiti war und ist, die Innovationen zur Folge hatte, aber auch neue anhängliche Problematiken schaffte. Hasst man Kunst, die aktuell in Museen und Galerien zu sehen ist, dann beinhaltet das dementsprechend auch Graffiti und Post-Graffiti. Im besten Fall kann hier von einer Allianz gesprochen werden (eine der wenigen, die Graffiti jemals angestrebt hat), im schlechtesten von einer Vereinnahmung. Aber dazu später mehr. Das Hassen kann in einer konformistischen Umgebung ein erster Schritt sein.

Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei Kuhnerts Text um einen subjektiven Kommentar handelt, da er keine Belege für seine Thesen liefert. Das ist bedauerlich, denn Belege hätten den Text produktiver gemacht. Auch weil es aufschlussreich ist Graffiti mit anderen Themenbereichen, Anliegen und Thesen zusammenzudenken. Ich werde ebenfalls in ähnlich subjektiver Weise auf seinen Text Bezug nehmen, jedoch punktuell auch Verweise und Referenzen anführen. Kuhnerts Feststellung, dass Graffiti ein Spiegel und möglicherweise sogar Stabilisator der Gesellschaft ist und keine Subversion (Kuhnert II & XVII) ist ein Gemeinplatz. Dies gilt für alle Künste und kreativen Bereiche, gilt für die gesamte Popkultur. Im Bereich Musik ist auch schon viel darüber geschrieben worden.3 So betont Roger Behrens, dass Widerstand und Subversion ganz klar zum Mythos des Pop gehören und als umfassende Integration ins kulturelle Feld funktionieren: Konsum wird nicht abgelehnt, sondern integriert, er wird zur Einstellungssache. Subkulturelle Bewegungen und Räume bedeuten also keineswegs eine gesellschaftliche Revolution, sondern versorgen mit ihrem Infragestellen das Zentrum mit Innovation. Gegenstand von Forschung war vor allem wie sich Subkulturen in der vernetzten, globalisierten Welt verändern. Hier wurden vor allem Club Culture und die Szenen der elektronischen Musik untersucht. Denn für die traditionellen Subkulturen war ein Dagegen-Sein zentral. Dies ist für viele der Gruppen, die sich im Feld der populären Musik der Gegenwart und speziell im Umfeld der elektronischen Musik konstituieren, heute nicht mehr der Fall, weshalb sie im kulturwissenschaftlichen Diskurs der letzten 20 Jahre häufig mit dem Begriff der Post-Subkulturen beschrieben werden.4 Wenn Jochen Bonz über House-Musik schreibt stellt er fest, dass sich die neue Subkultur nicht mehr auf die Mehrheitsgesellschaft bezieht. Was in der hegemonialen kulturellen Ordnung passiert (z.B. in Wirtschaft oder Politik) ist laut Bonz der neuen Subkultur egal, hat dort keine Relevanz. Daher spricht Bonz auch von einer Subkultur ohne Subversion.5 Dies ließe sich auch auf Graffit übertragen, da diese postmodernen Subkulturen selbstreferentiell und selbsterschaffend funktionieren, als Prinzip permanenter Performanz: „An die Stelle eines Bewusstseins für falschere und richtigere Gegenstände, für Inhalte und Werte einer Welt gibt sie dem Begehren, überhaupt zu einer Welt zu kommen, eine Form“. Warum also kann Kunst, Popkultur, Graffiti nichts an den bestehenden Macht- oder Eigentumsverhältnissen ändern? Der Grund dafür ist eine Kulturalisierung der Städte6 und hängt damit zusammen, dass die Künstlerkritik Teil der neuen Managementstrategien geworden ist. Die Künstlerkritik ist an und für sich vereinnahmt worden, was jegliche Auswirkungen einer kritischen Creative Response7, was auch Graffiti sein kann, erheblich erschwert. Aber keinesfalls unmöglich macht. Graffiti ist in vielerlei Hinsicht sogar prädestiniert dafür – denn hier wurden stets Kniffe und Strategien entwickelt und Lösungen für komplexe Probleme gefunden (z.B. bei der Hindernisüberwindung zum Erreichen des begehrten Objekts/ Ziels). Dennoch scheint eine Vereinnahmung oder wie Zepter es formuliert – die Tatsache, dass die Kulturindustrie Gott abgelöst hat, für die meisten AkteurInnen kein relevantes Thema zu sein bzw. man arrangiert sich damit. Das gilt aber auch für alle anderen kreativen und/ oder künstlerischen Bereiche. Und die Motivation, warum man etwas macht, wird man nie mit allen in einem Tätigkeitsfeld teilen. Egomanen und Mitläufer gibt es überall. Die große Kunst könnte nun sein, diejenigen in dem global vernetzten Wirrwarr zu finden, die ähnlich denken und handeln und mit ihnen etwas auf die Beine zu stellen. Mag sein, dass Kuhnert dies mit dieser Publikation gelingt, es mag aber auch sein, dass er einige potenziell Gleichgesinnte mit seinem Text eher abschreckt. Denn statt hier nun produktive Vorschläge zu machen, gleicht sein Text einer Abrechnung mit einer enttäuschten Liebe, in der es schlussendlich doch darum geht selber besser dazustehen. Wäre es nicht auch denkbar, dass viele AktivistInnen sehr wohl reflektieren, aber trotzdem Bilder malen, die Kuhnert unter „Einfallslosigkeit“ und „Konsensbrei“ subsumiert?

Egal, ob es um kryptografische Graffiti geht oder um instrumentale Musik, die künstlerische Arbeit lässt sich zumeist mit jedweder Bedeutung füllen. Gerade deswegen wäre es von Zeit zu Zeit wichtig, die eigene Arbeit zu kontextualisieren, so dass Fremdzuschreibungen weniger Raum gegeben wird. Gewissermaßen handelt es sich bei TDOG um eine solche Kontextualisierung und das begrüße ich! Doch auch das WIE spielt dabei eine Rolle. Doch die Art und Weise kommt bisweilen arrogant, anmaßend und paternalistisch daher (und ist das nicht auch typisch für Graffitisten?). Dennoch befürworte ich die Anstrengung einen inhaltlichen Austausch voranzutreiben. Ich werde im Folgenden versuchen Kuhnerts emotional aufgeladene Kritik aufzugreifen und an einige Punkte anzuknüpfen. Das Gefühl, mit seinen Anstrengungen alleine dazustehen beziehungsweise auf Ignoranz und Ablehnung zu stoßen, ist mir wohl bekannt und vermutlich auch ein Grund, warum ich mit dem Ganzen heute nur mehr wenig zu tun habe. Trotzdem ist es wichtig offen zu bleiben – vor allem für Austausch und Kommunikation, denn was fast alle fundierten kapitalismuskritischen Studien hervorheben, ist ein fortschreitender Abbau jeglicher Solidarität und die Fragilität und Instabilität der in der post-industriellen Welt entstehenden gemeinschaftlichen Bindungen.

Im Folgenden möchte ich zwei Aspekte fokussieren, die in meiner Lesart von Kuhnerts Text anklingen: der Mangel an Diskurs und der Mangel an Austausch innerhalb und außerhalb der Szene. Diskurs verstehe ich im Sinne Michel Foucaults als Verständnis von Wirklichkeit, welches diese nicht nur benennt, sondern sie gleichzeitig mit hervorbringt. Also zum einen die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Graffiti, besonders jenseits der Kunstakademien. Das, was bisher dazu geschrieben wurde – sei es akademisch oder auch journalistisch – ist sehr verstreut und meines Wissens nach bisher nicht gebündelt oder archiviert worden. Denn Craig Castleman oder Jean Baudrillard sind nicht die einzigen, die bisher etwas formuliert haben, dennoch hat man den Eindruck, dass seit den 80er Jahren nicht mehr allzu viel bewegendes auf theoretischer Ebene geschrieben wurde. Bücher, die eine ganz neue Art von Diskurs aufmachten wie beispielsweise „Das Gedächtnis der Stadt schreiben“ von Markus Mai und Thomas Wiczak, die „Graffiti Diaries“ von Pigenius Cave oder „Art Inconsequence“ von Robert Kaltenhäuser und anderen blieben glückliche Einzelfälle, waren aber nicht der Anfang eines Kanons oder diskursprägend. Dies hängt vermutlich auch damit zusammen, dass die Veröffentlichung von Büchern kostspielig ist und auch nur wenige Verlage existieren, die in diesem Bereich veröffentlichen. So scheinen sich immer noch die Bücher am besten zu verkaufen, die einen geringen Wortanteil haben. Auseinandersetzung mit Theorie bleibt selten. Auch wenn zu vermuten ist, dass so manche/r Graffitist oder Graffitistin, studiert hat und eine Abschlussarbeit zum Thema Graffiti verfasste. Jedoch werden diese nur selten veröffentlicht, weil es kostspielig ist und institutionellen Support erfordert und daher verbleibt vieles in der Unbekanntheit. Und auch die Veröffentlichungen von Possible Books oder AKV Verlag erreichen nicht die Massen – weder außerhalb noch innerhalb der Szene. Ein Archiv, das die verstreuten Arbeiten und Textformate zusammenträgt, könnte eine Basis zur Diskursbildung sein. Andererseits fehlt es an Veranstaltungen, wo Diskurse stattfinden und weiterentwickelt werden könnten. Beispielsweise über Vorträge, Diskussionsrunden, Workshops oder moderierte Streitgespräche. Diese finden zwar immer wieder mal im Rahmen von Ausstellungen statt, werden aber nur selten dokumentiert und sind ebenfalls über viele Länder, Städte und bestenfalls Websites verteilt. So dokumentieren die einzelnen AkteurInnen ihr Schaffen akribisch, der Diskurs wird jedoch nicht dokumentiert. Dies ist aber wichtig, wenn es einer Kontextualisierung und inhaltlichen Auseinandersetzung bedarf. Und Geschichte wird gemacht und man sollte es keinesfalls Außenstehenden überlassen, diese Geschichte zu schreiben und zu deuten.

Ich behaupte, dass Diskurs und Avantgarde eng verknüpft sind. So bemängelt Kuhnert den Mangel einer Avantgarde im Graffiti (Kuhnert III). Noch vor zehn Jahren schien so ein Diskurs hier in Berlin vermehrt stattzufinden. So gab es an Orten wie dem Senatsreservenspeicher oder auch bei Veranstaltungen wie Backjumps Live Issue, JazzStyleCorner oder dem Rhythm of the Line-Filmfestival Möglichkeiten für einen Diskurs, für Kommunikation und Auseinandersetzungen. Auch bei unseren End2End-Festivals in Hamburg war das der Ursprungsgedanke, dass man kommuniziert: Streetart-Afficionados mit Graffiti-AktivistInnen, HamburgerInnen mit BerlinerInnen oder Deutsche mit dem Rest der Welt. Austausch durch Ausstellungen, Filme, Gespräche oder gemeinsame Aktivitäten. Diese Orte und Veranstaltungen existieren leider größtenteils nicht mehr.8 Rückblickend gelang es scheinbar nicht an die Energie, Euphorie und die Aufmerksamkeit, die sich im Zuge der Post-Graffiti-Welle ab Anfang der 2000er entwickelte, kontinuierlich anzuknüpfen und diese langfristig für Projekte oder Diskursbildung zu nutzen.

Die Reclaim Your City-Konferenz in Berlin ist eines der wenigen Beispiele, wo ein interdisziplinärer Austausch aktuell noch stattfinden kann.9 Andere Interessensgruppen sind weitaus besser organisiert, wenn es um Kommunikation, Wissenstransfer und Diskurse geht, seien es die jeweiligen Musikszenen, die Hacker-Community oder auch politische AktivistInnen jeglicher Ausrichtung. Vielleicht hängt dies mit dem von Kuhnert hervorgehobenen ausgeprägten Individualismus zusammen oder damit, dass Graffiti an und für sich bereits sehr zeitintensiv ist und neben der Lohnarbeit kaum noch Zeit bleibt sich zu engagieren. Dies gilt aber ebenso für Popmusik und jenseits des Mainstream finden Events jeglicher Größenordnung und stilistischer Ausrichtung statt. Im Graffiti könnte der Aspekt des Illegalen erschwerend dazukommen, wenn es um Förderanträge oder öffentliche Kommunikation geht. Vielleicht ist aber auch die von Christoph May in seiner Vortrags-Trilogie formulierte Sprachlosigkeit der Graffiti-Aktiven der Grund dafür, handelt es sich doch mehrheitlich um heranwachsende Männer.10

Diese Mangel an Kommunikation und Verbundenheit ist allerdings ambivalent. Denn die Graffiti-Szenen haben sehr gute und effektive internationale Netzwerke, welche Kommunikation und Diskurs befördern könnten (und dies in einem sehr begrenzten Rahmen auch tun). Auch dokumentiert man sein Schaffen ja extrem intensiv durch Videos, Photos, Blogs, Magazine. Leider gab es auch im Magazin-Bereich nur wenig Versuche auch hier Raum für Diskurse zu schaffen (z.B. Non Stop, Graffiti Magazine oder Zugriff) und man beschränkte sich vorwiegend auf die visuelle Dokumentation. Ich würde Kuhnert aber darin widersprechen, dass es keine Avantgarde gibt. Denn zumindest an der Schnittstelle zur bildenden Kunst kam doch etwas in Bewegung, das sogenannte Post-Graffiti. Die AkteurInnen sind jedoch kaum als Strömung sichtbar. Dennoch denke ich, dass es eine der großen Stärken von Graffiti ist, eben auch jenseits der elitären Räume und Regeln der Kunst zu existieren. Denn wenn sich etwas als besonders anfällig für die Dynamik des expansiven Turbo-Kapitalismus geoutet hat, dann die Kunstwelt oder „The Market of Symbolic Goods“, wie Bourdieu es aufzeigt.11 Zwar begrüße ich nach wie vor den Einzug der GraffitistInnen in die Kunstwelt, denn sie bietet motivierten AktivistInnen eine finanzielle und institutionelle Unterstützung und somit die Möglichkeit zur Weiterentwicklung. Aber wer hier erfolgreich ist, scheint kaum mehr Zeit für weitere Belange zu haben und dorthin zu entschwinden. Und ich hoffe, dass dies nicht das Ende der Fahnenstange ist. Wie andere Avantgarden in der Vergangenheit und Gegenwart könnte als Anfangspunkt die Veröffentlichung einer Agenda/ eines Manifests hilfreich sein, wo sich diejenigen, die sich darin wiederfinden, der bestehenden Gruppe (egal wie klein diese zunächst sein mag) anschließen könnten.

Kuhnerts Text könnte hierfür ein Ausgangspunkt sein, nur leider liefert er wenig konkrete Vorschläge, wie eine Veränderung zum Besseren stattfinden oder in Gang gebracht werden kann. Mein Vorschlag wäre mehr Orte zur Auseinandersetzung und Kommunikation zu schaffen – dies könnten Magazine und Bücher sein, ein Radiopodcast, ein Archiv, ausstellungsartige Formate oder eben regelmäßige Veranstaltungsreihen. Dies muss auch gar nicht in einem legalen oder staatlich geförderten Kontext stattfinden und die Free-Tekno/ Teknival/ Free-Rave Bewegung könnte hier als Vorbild dienen. Auch ist mein Eindruck, dass die Magazine oder Veranstaltungen, die es in der Vergangenheit gab, vorwiegend von Personen gemacht wurden, die jetzt auch um die 40 Jahre sind und nun in einem viel größeren Ausmaß von Familie und Lohnarbeit gefordert werden und ihre Aktivitäten einschränken müssen. Das ist auch ganz normal und der Gang der Dinge, vielleicht stimmt auch Mays These und sie haben inzwischen alle ihre emotionale Sprache gefunden und Graffiti ist für sie obsolet geworden.12 Was auch immer die Gründe sein mögen die eigene Aktivität einzuschränken – es scheinen nur wenige (zu wenige!) AktivistInnen nachzukommen, um diesen Platz einzunehmen. Folgerichtig könnte auch Kuhnert selbst etwas im Zuge der Veröffentlichung ins Rollen bringen, möglichst etwas das generationsübergreifend ausgelegt ist.

Ein weiterer Punkt, der hier anschließt ist eben die scheinbare Isolation von Graffiti. Ist Abgrenzung in der Entstehung einer Bewegung oder eines Individuums relevant, so sollte es später darum gehen Allianzen und neue Anknüpfungspunkte zu schaffen; dies scheint mir gerade zum jetzigen Zeitpunkt entscheidend, wenn man den wissenschaftlichen Diskurs beobachtet. Während andere Gruppen auch Verbindungen zu anderen Gruppen suchen und schaffen, scheint dies bei Graffiti nicht der Fall zu sein. Auch hier ist möglicherweise die Tätigkeit im Feld des Illegalen der Grund. Jedoch ist dies kein Hinderungsgrund und gilt beispielsweise auch für Hacker. Die Überschneidungen in den Bereich der bildenden Kunst, Design oder visuelle Kommunikation sind offensichtlich. Aber auch in die Bereiche Computer, Sport, politischer Aktivismus oder Musik gibt es viele Overlaps. Hier wäre ein Austausch für Wissenstransfer, Knowhow, Vernetzung oder einfach Solidarität denkbar und wünschenswert. Auch dort könnte man Gleichgesinnte finden und gemeinsam Projekte realisieren.

Nachdem TDOG alles Denkbare anspricht, was man an Graffiti kritisieren könnte, war ich allerdings sehr überrascht darüber, dass ein wesentlicher Punkt nicht genannt wurde: Die Abwesenheit von Frauen in der Szene und die damit einhergehenden Konstruktionen von Männlichkeit, was in der Regel dazu tendiert alles auszuschließen, was nicht heteronormativ ist. Hier ist die schon erwähnte Arbeit von May ein wichtiger Beitrag. Die Ankündigung, dass Kuhnert soziologische und psychologische Aspekte beleuchtet wird für mich nicht eingelöst, da auf soziologischer Ebene die Hälfte der Gesellschaft ausgeklammert bleibt und psychologisch ein so fundamentales Thema wie Männlichkeit oder auch Sexualität nicht angesprochen wird. Daher ist der Autor ähnlich ignorant, wie die GraffitistInnen, die er kritisiert. Damit offenbart Kuhnert möglicherweise auch, wie stark er doch selbst von der Szene geprägt ist. Der hier aufscheinende Mangel an Selbstreflektion mag ihm vielleicht helfen, eben jenen Mangel bei anderen GraffitistInnen nachzuvollziehen. Ohne in Genderklischees zu verfallen, wohlwissend dass auch Männer fürsorglich und sozial agieren und auch Frauen egoistisch oder risikofreudig sind – kann man dennoch davon ausgehen, dass die sozialen und ästhetischen Fähigkeiten der Graffitisten stärker ausgeprägt wären, wenn mehr Frauen dabei wären. May folgend13 lässt sich auch vermuten, dass das Männlichkeitsbild eine stilistische Vielfalt blockiert, nicht weil Frauen kreativer oder einfallsreicher malen würden, sondern einfach dadurch, dass Frauen die Herausforderungen im Graffiti anders bewältigen als Männer und dadurch eine größere Toleranz für unterschiedliche Herangehensweisen vorhanden wäre. Vielleicht würde das gemeinsame Erleben und darüber Kommunizieren auch zu einer facettenreicheren und emotionaleren Ausdrucksfähigkeit führen und so zu einer ästhetischen und diskursiven Vielfalt beitragen.

So scheint das Bild von Männlichkeit, das im Graffiti vorherrscht, ein zentraler Aspekt der anhängigen Probleme, die Kuhnert anspricht. Auch wenn die Akteure sehr divers sind und unterschiedliche Konstruktionen von Männlichkeit abbilden, so gibt es dennoch eine Tendenz zu einem Männlichkeitsbild das Leistung, Omnipotenz, Risikofreudigkeit und Überlegenheitsphantasien befördert. Das zeigt May in vielfachen Beispielen in seinen Vorträgen auf und kommt zu ähnlichen Schlüssen wie schon Nancy McDonald vor fünfzehn Jahren in ihrer Studie zu Jugend und Männlichkeit im Graffiti.14 Letztendlich geht es May um das Aufzeigen eines Mangels, einer Verkümmerung sozialer Fähigkeiten. Eine ähnliche Stoßrichtung lese ich auch bei Kuhnert heraus, wenn er von „Traditionalismus“ (III), von „faschistoiden Konservatismus“ (IV)15 sowie „Bewahrung und Vereinheitlichung“ (IV) spricht. Nur, dass er die Ursachen woanders sucht, das Ergebnis bleibt ähnlich. Der Ausschluss von Frauen ist ein gemeinsames Moment, und Homophobie ein weiteres. 16 In seiner Interpretation von Crews als Geschäftsbeziehung ist May auch wieder sehr nahe bei Kuhnert, der die Existenz wahrer Solidarität bezweifelt oder ihr maximal eine marginale Rolle zubilligt, denn der Zusammenschluss von Einzelnen ist „kein bloßer Akt der Selbstlosigkeit, auch wenn Freundschaften eine Rolle spielen mögen, sondern er dient auch dazu, durch das Prinzip der Arbeitsteilung jene Einzelbedürfnisse zu befriedigen, die allein nicht oder nur schwer zu befriedigen sind (...). Insofern trifft die bisherige Kritik auch und gerade auf die Crews zu“ (Kuhnert XVI).

Die Frage, ob man nun gerade im Graffiti besonders gut Solidarität und Freundschaft erlernen kann oder eher nur marktwirtschaftliches Teamwork kann hier nicht abschließend geklärt werden. Zumindest ist Obacht geboten, dass die Graffiti-Aktiven die konsumistischen Ideale des Kapitalismus nicht allzu widerspruchslos verinnerlichen. Eine „radikale“ und oder gar „konsequente Form der Besitzablehnung“ (Kuhnert XII) ist auch im Graffiti nicht in Sicht. Aber träumen ist erlaubt und wichtig. Hierzu bedürfte es zunächst einmal einer fundierten Kapitalismuskritik in Verbindung mit den eigenen Praktiken. Dass Gesellschaftskritik im Graffiti (mehr als anderswo) instrumentalisiert wird (Kuhnert XVII) ist ein harter Vorwurf, den man erst einmal beweisen müsste, denn in Abhängigkeiten und Widersprüche sind wir alle verwickelt (beispielsweise wollen wir Meinungsfreiheit, aber lassen zu, dass alltägliche Kommunikationsmittel wie Facebook oder Google Monopole erschaffen, die unsere Meinung prägen und ungestört Profit aus unseren Daten generieren; die Liste der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen). Ebenso ist Kuhnert in Widersprüche verwickelt von denen ich ein paar aufzeigen wollte. Was sich gesellschaftlich bereits in vielen Bereichen andeutet – die Tendenz zur Verschmelzung von Freizeit und Arbeit, zu lebenslangem Lernen und ständigem Schaffenszwang unter unsichersten Bedingungen oder die Hervorbringung neuer Ausschlüsse17, hat Zepter für die Kunst auf den Punkt gebracht: „Es ist eine Günstlingsgemeinschaft. Wer nicht mitläuft ist raus“.18 Und es bleibt zu hoffen, dass die Situation im Graffiti sich nicht deckungsgleich mit der Lage in der institutionalisierten Kunst entwickelt: „In den meisten Ausstellungen überfällt einen deshalb nicht mehr Begeisterung, sondern stille, diskrete Scham. Langweilige sich wiederholende Ideen, Kopien von Kopien“.19 Kuhnert meint wir sind schon dort angekommen, aber ich glaube das nicht. (Illegales) Graffiti ist nie wirklich Mainstream geworden, obwohl global vorhanden, ist es ein Nischenphänomen geblieben im Vergleich zur bildenden Kunst. Egal, ob man sich in einem Hype befindet, der immer viel Schrott mitproduziert oder in einer Phase der Unpopularität – wichtig bleiben Schritte in Richtung mehr Diversität, mehr Kommunikation, mehr Gemeinschaft, mehr Zusammenarbeit mit anderen Gruppen und mehr Diskurs. Und vor allem eines: Raus aus der Sprachlosigkeit!


  1. Zepter 2013, S. 130. 

  2. Zepter 2013, S. 13. 

  3. Siehe u.a. Roger Behrens: Die Diktatur der Angepassten. Texte zur kritischen Theorie der Popkultur, 2003 oder Holert & Terkessidis (Hg.): Mainstream der Minderheiten – Pop in der Kontrollgesellschaft, 1996; Gilbert& Pearson: Discographies – Dance Music, Culture and the Politics of Sound, 1999. 

  4. Vgl. Ludewig: Gegenkultur – ein wohltuender Spuk für die Tanzflächen! In: Ein Handbuch für Morgen, Falter Verlag 2015. 

  5. Vgl. Jochen Bonz: Subjekte des Tracks. Ethnografie einer postmodernen/ anderen Subkultur, 2008. 

  6. Hier geht es um kulturelle Ressourcen. Reckwitz meint mit kulturorientiert - Städte, die sich „nicht mehr als funktionale, sondern primär als kulturelle Gebilde verstehen. Für das Kreativitätsdispositiv bildet diese Kulturalisierung des urbanen Raums eine tragende Säule. Das zentrale Merkmal dieses Stadttypus besteht darin, dass er für Bewohner, Besucher und Berufstätige zum Produktionsort immer neuer Zeichen, Erlebnisse und Atmosphären wird. (...) 'Kultur‘ als Leitbegriff ist im Kontext der spätmodernen Stadt uneingeschränkt positiv besetzt. Sie wird zugleich mit der vitalististischen Konnotation des Dynamischen und Beweglichen verknüpft, die sich im Etikett der creative cities niederschlägt.“ Und so manches antihegemonisches Projekt verkehrt sich in diesem Prozess zur Dominanz. Zu den Ästhetisierungsagenten dieses Prozesses gehören auch die urbanen Künstlerszenen und Subkulturen (Reckwitz 2012: S. 274ff) 

  7. „Creative Response ist kreatives Denken und Handeln zu gesellschaftspolitisch wichtigen Fragestellungen unserer Zeit“. https://elevate.at/programm/diskurs/creativeresponse/; siehe auch Dokumentation von Antonio D'Ambrosio:http://www.letfuryhavethehour.com/ 

  8. Die Backjumps Live Issue 20+1 war einer der wenigen aktuellen Versuche und es bleibt abzuwarten, ob Backjumps den Sprung in die Gegenwart schafft. 

  9. RYC ist eine Plattform und ein Archiv für Protestkommunikation und künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum. Urban Art/Streetart/Graffiti-Entwicklungen seit 2003 bilden den Fokus der Website, dennoch scheint vor allem politischer Aktivismus im Zentrum von RYC zu stehen; weshalb hier vor allem AktivistInnen unter diesem Fokus zusammenkommen. 

  10. „Der Soziolekt von Sprühern ist durchdrungen von Kriegsmetaphorik und sexualisiertem Maschinen- und Technikvokabular. Von Gemütserregungen, Stimmungen, Sensibilität oder gar Sinnlichkeit fehlt nahezu jede Spur. (...) Wie aktuelle entwicklungspsychologische Studien zeigen, wächst die junge Männlichkeit heute tatsächlich in der dumpfen, aber drängenden Ahnung auf, emotional nicht ganz zu Ende geboren zu sein. (...) Graffiti stellen selbst eine vielgestaltige Maske dar, ein Bild-gewordenes Selfie-Moment des jeweiligen Sprühers. Nicht das äußere Abbild ist hier zu erkennen, nein, es zeigt den emotionalen Entwicklungsstand des Mannes.“ http://genius.com/Christoph-may-graffiti-als-emotionale-detonation-annotated 

  11. Siehe Pierre Bourdieu: The Field of Cultural Production. Essays on Art and Literature, 1993. 

  12. „In meiner Forschung über die Landnahme-Strategien von Graffiti-Sprühern vertrete ich die These, dass das Interesse an Graffiti verschwindet, sobald die innere Realität des Sprühers seiner äußeren entspricht, also quasi deckungsgleich ist und für jedwede Projektionen keinen Raum mehr bietet. Als berufsbegleitendes ‚Hobby‘ wird schließlich auch das opponierende Graffiti-Moment endgültig aufgegeben. Oder weitergegeben an die Söhne: aus freien Radikalen und Kolonisten werden treusorgende Väter und Berufstätige.“ http://genius.com/Christoph-may-graffiti-als-emotionale-detonation-annotated 

  13. „Zum anderen zeigt sich hier die Symbolik der Graffiti-Styles als mit Bedeutung überladene, superdupergeheime Männlichkeits-Offenbarung, die nur im Dunkeln, sprich in völliger Umnachtung und Abwesenheit der Frau vorgebracht werden kann“. In: http://genius.com/Christoph-may-mad-max-vs-graffiti-annotated 

  14. Nancy McDonald: The Graffiti Subculture. Youth, Masculinity and Identity in London and NewYork, 2001. 

  15. Hier wäre mehr Sorgfalt und Bedacht in der Wortwahl geboten. Ebenso, wenn es um Repressionen geht. 

  16. Andernorts formuliert May es noch zugespitzter: „Sobald das repetitive Moment die Style-Ästhetik dominiert, gerät die emotionale Entwicklung der Sprüher meist ins Stocken und stagniert im Bombing-Dauer-Loop.“ So „bezeugen Graffiti den emotionalen Entwicklungsstand des werdenden Mannes als kryptonyme Illustration und damit als Projektion eines geheimen, aber unbändigen Begehrens nach Liebe und Aufmerksamkeit beziehungsweise Fame.“ (http://genius.com/Christoph-may-mad-max-vs-graffiti-annotated

  17. Wobei die alten weitestgehend bestehen bleiben, Stichworte: Race, Class, Gender 

  18. Zepter 2013, S. 18. 

  19. Ebenda, S. 14. 

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