The Death of Graffiti

Totgesagte leben länger

Willi Schmudde

Am Anfang war die Sprühdose. Sie hatte mehr Potential als ihre Erfinder damals vermuteten. Zunächst als cleveres handwerkliches Hilfsmittel gedacht, begann ihr Aufstieg zum Kulturwerkzeug. Ihre Erfindung – wie einst die der Kreide oder die des Füllfederhalters – ermöglichte eine neue Kulturtechnik: Graffiti.

Fünfzig Jahre oder etwas länger ist Graffiti in der Welt, Grund genug für ein Fazit. Oliver Kuhnert legt nun mit „TDOG“ einen Text vor, der weit mehr ist als ein Fazit, er beabsichtigt „eine längst überfällige Fundamentalkritik, die von innen kommt und mit bestimmten szenetypischen Fehlwahrnehmungen und Missständen ins Gericht geht“. Mit Verve und Leidenschaft legt er eine Generalabrechnung vor. Zugleich enthält der Text eine Vielzahl von Denkanregungen. Letztlich kommt Kuhnert zum Schluss, dass Graffiti nicht nur tot sei, sondern dass es nie gelebt hätte. Warum dann, fragt sich der Leser etwas irritiert, ein solch großes emotionales Feuerwerk abschießen?

Dass Graffiti für Kuhnert mehr als tot ist, nimmt man ihm beim Lesen ab. Es scheint da etwas ganz Persönliches im Spiele zu sein. Man merkt dem Text durchaus Kuhnerts Betroffenheit, ja seine Verletzlichkeit an. Er selbst benennt seinen „Death of Graffiti“ ein Dokument seiner Entfremdung. Endzeitstimmung kommt auf. Doch vielleicht ist es für Kuhnert nur ein schmerzhafter Abschied von den jungen Jahren? Auf Überidentifikation folgt die ernüchternde (rigorose) Abkehr? Kuhnerts ganz persönlicher Schlussstrich kommt so als Untergang von Graffiti daher. Doch wir wissen ja längst, wenn eine Epoche zu Ende geht, ist dies immer noch nicht das Ende aller Zeiten. So behaupte ich: Totgesagte leben länger.

Kuhnert hat völlig Recht, „eine Revolution im sozialen oder politischen Sinne war (Graffiti) nie“. Wie sollte es auch? Gedichte, Malerei, Theater – niemals hatte Kunst das Potential, die Gesellschaft zu revolutionieren. Aber reiner „Selbstzweck“ ist Kunst nie. Ihre kleinsten und größten Formen begleiteten gesellschaftliche Eruptionen schon immer. So begleitete Graffiti zunächst den großen Wandel der Gesellschaft in den USA. Gerade zuerst in den Ghettos verliehen junge Leute, oft Kinder, meist aus Unterschichten, meist Schwarze, ihrem Dasein einen Ausdruck. Sie konfrontierten den Rest der Gesellschaft mit ihrem Dasein. Graffiti schrie von den Wänden: Wir sind auch da, seht, auch in den Vierteln der Oberklasse, auf U-Bahnen und Zügen, letztlich auch auf den Mauern der Chase Manhattan Bank New York. Ignoranz wurde unmöglich. Graffiti war unübersehbar und so ein neue und unerhörte Erscheinung am Rande der aufkommenden demokratischen Bewegungen, die Amerika Ende der 60er und in den 70er Jahren verändern sollte: die Friedensbewegung gegen den Vietnamkrieg, Black Power und Civil Rights Movement, die schwarze Befreiungsbewegung unter Martin Luther King, die Frauenrechtsbewegung, die schwule Befreiungsbewegung. Wir sind da, wir wollen euch irritieren, wir wollen wahrgenommen werden, nicht nur in Greenwich Village.

Schnell schwappte die Graffiti-Welle auf andere Kontinente, wenn auch in anderen Formen. Die Außerparlamentarische Opposition (APO) und Studentenbewegungen bedienten sich politischer Graffiti. Wer kennt nicht die Fotos mit den Peace-Zeichen an den Wänden von Hamburg und West-Berlin der 60er und 70er Jahre. Doch die Graffiti-Welle war keineswegs eine rein politische und in der Folgezeit auch keine, die von einer klar definierten sozialen Schicht getragen wurde. Nein, Graffiti wurde Massenphänomen, Modeprodukt, Werbeform, kurz, in den Jahrzehnten sehr gründlich und ausgiebig genutzt, verwertet und vermarktet. Man kann Kuhnert deshalb folgen, wenn er schreibt, dass es in der Gegenwart „zwar neue Strömungen gibt..., aber sie werden bald selbst zum Modephänomen und damit zum Klischee, oder sie verflachen, statt konsequent zu Ende gedacht zu werden. Selbst Pioniere fallen oftmals hinter ihre eigenen Errungenschaften zurück oder ruhen sich auf ihren Leistungen aus. Das System Graffiti ist erstarrt. Wirkliche Erneuerungen gehen nur von Einzelnen aus und sie bleiben bei Einzelnen.“

Aber ist Graffiti deshalb gleich tot? Ist es nur „Vorwand zum Aktionismus“, und kaum mehr eine Möglichkeit des Ausdrucks?

Wir eignen uns die Welt auf vielfältige Weise an, unter anderem durch künstlerisches Tun. Wenn Graffiti so etwas ist wie künstlerisches Tun, dann beginnt das Werden (und Vergehen) von Graffiti immer wieder von Neuem. Und dabei geschieht diese Aneignung im doppelten Sinne. Die Werkzeuge und Handhabungen muss sich jeder Graffiti-Sprüher zu eigen machen, bis (vielleicht) Kunst daraus wird. Und (im zweiten Sinne) werden Oberflächen, Räume angeeignet als Arbeitsgegenstände und Präsentationsfläche. Beide Aneignungsformen sind produktiv, erstere bringt Können und Kunst hervor, zweitere wirkt in die Welt, sie erfreut, macht aufmerksam und nachdenklich. Und im Zweifel provoziert sie, beschädigt und „enteignet“ fremdes Eigentum. Ärger, Aufruhr und Sanktionen sind die Folge. Ja, Graffiti macht sich (bewusst) auch Feinde. Doch solange Menschen darauf Lust haben oder es sinnvoll finden, lebt Graffiti.

Daran wird sich vorerst nichts ändern, auch wenn Kuhnert den Graffiti-Malern zurecht ganz schmerzhaft auf die Hände tritt mit seinem Vorwurf des „Graffitiprimitivismus“ und des „Reproduktionswahns“. Soviel an diesem Vorwurf dran ist, er wird nichts bewirken. Kuhnert geht es einmal um die Einfachheit und zum anderen um die Wiederholungszwänge, die massenhaft in der Graffiti-Produktion anzutreffen sind.

„Graffitiprimitivismus“ und des „Reproduktionswahns“ gehören natürlich zum Gesamtbild Graffiti, das sich die Öffentlichkeit macht, und sie beeinträchtigen es aus Sicht vieler negativ. Mitunter haben wir es hier mit einem Suchtverhalten der Sprüher zu tun. Ein Impuls wird freigesetzt, der zuletzt aus einem Mangel an Aufmerksamkeit und dem Drang nach Anerkennung entspringt. Es geht also um nicht weniger als den Anspruch, grundlegende soziale Bedürfnisse zu befriedigen. Dieser Anspruch steht jedem zu. Respekt und Anerkennung sind ja nicht von ungefähr auch zentrale Themen von Jugendkultur und Demokratiebewegungen. Zugleich kann soziale Anerkennung zur Droge werden, egal ob sie jenen Sprühern als Sympathiekundgebung oder als Kriegserklärung entgegentritt. Dies ist zumindest ein Erklärungsmuster des „Reproduktionswahns“.

Ein Spruch von Nietzsche könnte geeignet sein, Kuhnerts hartes Urteil über reproduktionswahnsinnige Sprüher abzumildern: „Menschen, welche der Welt ihre Verdienste nicht völlig deutlich machen können, suchen sich eine starke Feindschaft zu erwecken. Sie haben dann den Trost, zu denken, dass diese zwischen ihren Verdiensten und deren Anerkennung stehe – und dass mancher andere das Selbe vermute: was sehr vorteilhaft für ihre Geltung ist.“1


  1. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, 1878-1880. Erster Band. Neuntes Hauptstück. Der Mensch mit sich allein 

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