The Death of Graffiti

Tod und Leben von Graffiti

Tobias Barenthin Lindblad

(Tod und Leben von Graffiti) 1

„Viele Writer verbringen auch eine Menge Zeit in den U-Bahnstationen. Dort beobachten und kritisieren sie die vorbeifahrenden Pieces, geben ihre Skizzenbücher an andere weiter und zeichnen in die 'Blackbooks‘ voneinander. Die Writer bemühen sich sehr um diese Skizzen und ein Writer, der ein außergewöhnlich gutes Bild in einem Buch gemacht hat, hat das Buch 'geburnt'.“ 2

Es ist eine Ehre, die Einladung zu bekommen, einen Text zu kritisieren – die Gedankenwelt von jemand anderem neu zu gestalten. Deshalb liebe ich die Graffiti-Szene. Das erinnert mich an einen Artikel in der UP über eine Bitebattle in Göteborg, als... Nun, das ist eine andere Geschichte.

Oliver Kuhnert hat viele intelligente Menschen eingeladen, über seinen Text zu schreiben. Ich bin ein wenig nervös. Ich würde ja gerne in seinem Buch 'burnen'! Aber wenigstens möchte ich versuchen, mit einem Puzzlestück zur Wirklichkeit beizutragen. Gemeinsam werden wir klüger!3

Da ich mit Kuhnert nicht einverstanden bin und da ich seinen Text eher als meinungs- denn als faktenbasiert auffasse, möchte ich erzählen, warum nach dreißig Jahren mein Interesse für Graffiti immer noch weiter wächst.

1. Einführung

Laut Tracy 168 gibt es hunderte von verschiedenen Writer-Typen.4 Das bedeutet, dass jeder eine andere Antriebskraft hat. Mein Versuch, über Graffiti zu erzählen, gründet sich sowohl auf meine eigenen Erfahrungen in der Szene als auch auf meine Beobachtungen des Phänomens als Schriftsteller.

Graffiti ist eine urbane Kalligraphie, von Kindern und Jugendlichen entwickelt und in den letzten fünfzig Jahren in fast der ganzen Welt verbreitet. Es ist eine eigene Ästhetik und zugleich ein Akt. Graffiti ist eine Art unterirdisches Werbesystem. Allerdings unterscheiden sich Graffiti und Werbung in zwei wichtigen Punkten:

A. Die Writer bezahlen nicht für den Platz, den sie in Anspruch nehmen, sondern malen dort, wo sie Lust haben.

B. Ein Piece oder Tag verkauft nichts. Nicht einmal sich selbst. Es hat sich von allen Hiphop-Elementen als am schwersten zu verkaufen erwiesen.

Graffiti hat eine niedrige Einstiegsschwelle. Es ist möglich, Graffiti ohne ein kulturelles Kapital auszuüben. Darüber hinaus ist es möglich, es auf unterschiedliche Weise zu meistern. Jeder Writer kann sich aussuchen, entweder eine fleißige Arbeitsbiene und/oder ein Adrenalinjunkie zu sein (Fokus auf Quantität); ein High-Performance-Techniker und/oder ein aufwendiger Ästhet zu sein (und auf Qualität zu setzen). Die Grenzen sind natürlich fließend und Quantität kann auch eine Qualität sein. Writer arbeiten in einer Weise zusammen, die an Musikgruppen erinnert. Am wichtigsten: Es geht nicht darum, woher du kommst, sondern was du machst, wie der Rapper Rakim sagt. 5

Etwas, das zu provozieren scheint, ist die „Sinnlosigkeit“ von Graffiti. Jeder versteht einen Bankräuber. Dass jemand ohne ökonomischen Gewinn Zeit und Geld investiert, in einigen Fällen auch Geldstrafen und möglicherweise Gefängnisstrafen riskiert, scheint einigen Bürger als etwas Merkwürdiges. Das Belohnungssystem im Graffiti sieht anders aus. Nicht zuletzt unter einigen jungen Writern werden hierarchische Positionen angestrebt, aber König der Linie zu sein, bezahlt noch keine Miete.

Worin besteht die Belohnung? Um wieder mit Tracy 168 zu sprechen, gibt es wahrscheinlich so viele Antriebskräfte wie es Writer gibt. Der Bedarf sich auszudrücken, Kreativität, die Teilnahme an der physischen urbanen Umgebung und Selbstbestätigung sind einige davon.

In einer Stadt wie Stockholm verschwinden die meisten Bilder innerhalb von wenigen Tagen. Dann muss es Spaß machen zu malen, obwohl der Akt so ephemer wie ein Fußballspiel ist. Graffiti bietet einen Zugang zum wichtigsten Flow.6 Es klingt vielleicht alles ein bisschen nach Homo Ludens?7 Nur Spaß zu haben, ist aber eine Gaunereinstellung, wenn wir es mit den Augen der bürgerlichen Gesellschaft sehen. Laut dem schwedischen Historiker Peter Englund wurde diese Einstellung im Kapitalismus verstärkt. Die Arbeiter in der frühesten Industrialisierungsphase arbeiteten, bis sie Miete und Essen bezahlt hatten, und danach war Feierabend. Sie schätzten freie Zeit höher als Konsumption. Es dauerte mehrere Jahrhunderte, bis die Arbeiter so gezähmt waren, eine bedürfnisgesteuerte Konsumption vorzuziehen. Dabei wuchs, was John Locke als „Unbehagen“ beschreibt, ein nagendes Gefühl der Unzufriedenheit, wovon wir in der heutigen Gesellschaft genug haben: Begehren ohne Befriedigung. „Die Unzufriedenheit mit dem, was sich in der Regel als 'Lohnspiele‘ und 'gewerkschaftlicher Kampf‘ manifestiert, ist keine Herausforderung, es ist vielmehr ein Gefühl, dass dieses System [den Kapitalismus] bewahrt. Die Herausforderung kommt nicht von denen, die mehr verdienen wollen, sondern von denen, die weniger arbeiten wollen. So wie im 17. Jahrhundert.“8

2. Wer macht Graffiti?

In Stockholm gibt es seit Mitte der 1990er Jahre eine repressive Politik gegen Graffiti, Nulltoleranz genannt (gegenwärtig ist die Lage jedoch etwas entspannt). Laut Jacob Kimvall, der seine Doktorarbeit darüber geschrieben hat, ist diese Nulltoleranz wahrscheinlich einzigartig in ihrer Härte, zumindest in einem Staat, der sich demokratisch nennt.9 Eine der Aufgaben der Nulltoleranz ist es, Graffitikünstler zu entmenschlichen und ihnen gemeinsame negative Eigenschaften zuzuschreiben. Nulltoleranzbefürwortern fehlen jedoch wissenschaftliche Unterlagen, um ihre Aussagen zu belegen.

„Die Maler in New York kommen aus jeder Rasse, Nationalität, Wirtschaftsgruppe. (...) Sie kommen aus den reichsten bis zu den ärmsten Milieus. Man kann sie nicht auf einen Nenner bringen. Alles, was wir sagen können, ist, dass ein typischer New Yorker Jugendlicher Graffiti malen wird, wenn er die Gelegenheit dazu hat, und wenn seine Freunde das tun“, sagen die berühmten Graffiti-Polizisten Hickey und Ski.10 Das war damals und dort, aber ich habe das Gefühl, es gilt auch für jetzt und hier. Writer sind Menschen, und was sie möglicherweise vereint, ist ein Interesse an Farbe, Form und daran, sich kreativ auszudrücken. Heute ist die Graffitiszene sowohl altersmäßig als auch vom sozialen Hintergrund her gemischt. Allerdings sind die überwiegende Mehrheit der Ausübenden noch Jungen und junge Männer, obwohl sich das zum Beispiel in Stockholm begonnen hat zu verändern, wenn auch langsam.

Graffiti ist eine parallele Welt, wie alle Teilkulturen. Das bedeutet nicht, dass sie von der Gesellschaft getrennt ist wie in einem Aquarium. Im Gegenteil, Teilkulturen spiegeln die Gesellschaft wider.

3. Auswirkungen der Stadt auf Graffiti – Der Mensch

Nicht biten, nicht crossen, nicht aussagen: So hat der Oslo-Writer Raide einmal die Grundphilosophie der Graffiti-Szene summiert11. Sie ist auf eine Art und Weise wahr, aber für mich gibt es andere Teile der Grundphilosophie, die mindestens ebenso wichtig sind. Ich werde sie gleich beschreiben.

Das Interessante an der Graffitibewegung ist, dass sie sich in jeder Stadt anders entwickelt. Es ist, als ob die physischen und kulturellen Eigenheiten der Stadt die Graffiti prägen. Von manchen schwedischen Writern werden Städte wie Kopenhagen und Berlin als Ideale angesehen. Außerdem sind wir von all den Konflikten zwischen den Writern dort fasziniert. 'Beef City‘ nennen wir manchmal Berlin. In Stockholm gibt es natürlich auch Konflikte, aber vielleicht hat der Druck von außen Einheit nach innen geschaffen.

Berlin ist in vielerlei Hinsicht eine besondere Stadt. Wenige andere westeuropäische Großstädte sind in den letzten zwanzig Jahren so deutlich von schlechter Wirtschaftslage und Bevölkerungsrückgang gekennzeichnet gewesen. Dies hat dazu geführt, dass Graffiti in manchen Vierteln den öffentlichen Raum übernommen hat. Mich überkommt ein Anflug von Neid als ich mit der S4 fahre. (Fast) so sah Stockholm vor fünfundzwanzig Jahren aus. Die Masse der Graffiti erzeugt gleichzeitig für die lokalen Writer Probleme. Es gibt keinen Platz. Ein Problem, was in Stockholm nicht existiert. „Ich brauche mich nie darum zu kümmern, die Pieces von anderen übermalen zu müssen. Ich weiß, dass die Wände immer leer sind, wenn ich in Stockholm bin“, wie Babbo sagt. Vielleicht ist es das Gedränge, das die vielen Konflikte in Berlin auslöst? Trotz allem wird es von vielen elegant gelöst. Das Piece von jemand anderem mit dem eigenen einzurahmen ist ein Beispiel.

Erwachsenwerden handelt unter anderem davon, Konflikte zu lösen. Konfliktlösung in der Graffitiszene hat mir und vielen anderen Erfahrungen für das ganze Leben gebracht. Leider folgen wir nicht immer Afrika Bambaataas Idee von Frieden, Einheit, Liebe und Spaß an der Freude. Writer, wie andere Bürger, wenden manchmal auch Gewalt als Konfliktlösung an.

Graffiti, sowenig wie Religion, ist ein Garant dafür, den guten Menschen hervorzubringen. Es sind nur Werkzeuge für uns Menschen, um erleuchtet zu werden. Die wichtigste Graffitiregel ist die gleiche wie die der meisten Religionen: Andere behandeln, wie du selbst behandelt werden möchtest. Mit gutem Beispiel vorangehen funktioniert gut. Ich bin nur ein einziges Mal mit Writern in Schwierigkeiten geraten. Sowohl in Stockholm als auch auf Reisen wurde ich immer gut bewirtet.

Wenn Unternehmer Produkte verkaufen wollen, suchen sie in sozialen Netzwerken manchmal nach sogenannten Innovationspersonen (Early Adopters). Falls diese Leute anfangen, das Produkt zu benutzen, weiß der Unternehmer, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass sich das Produkt einführen lassen wird. Ich bin davon überzeugt, dass es mit allen Phänomenen ebenso funktioniert. Jeder von uns ist eine Innovationsperson und macht einen Unterschied. Dass die Stockholmer Szene so wenig Konflikte hatte, ist von zwei Personen abhängig: Kaos und Track. Das behauptet auf jedenfall Tier. Kaos war immer offen und hat neue Writer aufgefangen, und der offene Graffitisalon von Track ist legendär. Vielleicht sind Akim und Zast mit ihren Stylebattles und -diskussionen die Äquivalente von Berlin?

4. Auswirkungen der Stadt auf Graffiti – Stil > und öffentlicher Raum

Europa ist der Länge nach in der Einstellung zum öffentlichen Raum geteilt. Graffiti macht den Konflikt zwischen zwei Fundamenten der Demokratie, nämlich Meinungsfreiheit und Eigentumsrecht, deutlich, wie Jacob Kimvall zeigt.

In Nordeuropa, vor allem im protestantischen Bereich, ist der öffentliche Raum, allgemein gesagt, streng kontrolliert. Der Staat entscheidet, wer sich wo ausdrücken darf. Eigentumsrecht vor Meinungsfreiheit, könnte man sagen. Im übrigen Europa, vor allem am Mittelmeer, gilt das Gegenteil. Jeder, der antike Stätten in Italien besucht hat, weiß, dass die Menschen dort seit mindestens zweitausend Jahren an die Wände schreiben. Es ist also ein ursprüngliches urbanes Verhalten, das noch in den romanischsprachigen Ländern sowie auf dem Balkan deutlich ist. Natürlich besteht auch hier das Eigentumsrecht, aber die Bürger/Innen tolerieren Graffiti und Street Art an den Wänden. In Nordeuropa fordert Graffiti das Eigentumsrecht mehr heraus als im Süden, wo sogar die Polizei Bürger auffordern kann, Graffiti an Zügen zu malen. 12

Berlin, mit seiner massiven Präsenz von Graffiti im öffentlichen Raum, ist eine Ausnahme in Nordeuropa. Es ist deutlich, dass der öffentliche Raum der Stadt Einfluss auf die Graffitiszene hat. Die Architektur kann man im Buchstabenstil wiederfinden.13 Das Berliner „Roh, aber herzlich“ kann man in der Haltung von Writern, in der Positionierung und im Anspruch auf Sichtbarkeit finden. Crews wie RCB, JFK und KHC eroberten die Stadtlandschaft, ohne zu zögern, und übten starke stilistische Einflüsse aus. Unter schwedischen Graffitikünstlern gibt es einen allgemeinen moralischen Konsens, wo man nicht malt: Kirchen, Einfamilienhäuser und Privatautos zum Beispiel sind tabu. Wenn ich Berliner Writer frage: „Wo würdest du nicht malen?“, starren sie mich verständnislos an.

Eine neue Stadt zu besuchen, sie mit Graffitiaugen zu sehen und ihre Besonderheiten zu entdecken, ist immer wieder spannend. Verschiedene Szenen finden verschiedene Lösungen für die gleichen Probleme, je nachdem, wer aktiv ist und wie die Stadt reagiert. Rens aus Kopenhagen erzählt, wie minutiös er seine Pieces vorbereitete, wie ein Graffiti-James Bond. 14

Das kollektive Wissen der Writer weltweit ist enorm. Sie haben sich auf Kunst, Design, Maltechniken, technische Ausrüstung, Stadtplanung, Tunnelsysteme, Jura und vieles andere spezialisiert. Es wird erzählt, dass einige U-Bahnfahrer sind. Das ist leicht zu verstehen. Wer weiß mehr über das U-Bahn-System als ein hingebungsvoller Zugwriter?

In der frühen Anti-Graffiti-Propaganda in Stockholm wurden Writer als Leute präsentiert, die ihre Umwelt zerstören. Ich glaube, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Warum sollte jemand Tausende von Stunden investieren, eine urbane Kalligraphie zu erlernen, nur um etwas zu zerstören? Es wäre doch viel einfacher eine Fensterscheibe zu zerbrechen.

Graffiti ist ein Ausdruck des Willens, die physische Umgebung mitzugestalten. Es ist ein Akt der Liebe gegenüber der Stadt, ein Weg, einen Teil der Geschichte einer Stadt zu schreiben. An den Wänden beim Schwedter Steg in Berlin sind zwei Jahrzehnte Graffitigeschichte niedergeschrieben. Hier kommt Graffiti zu seinem Recht in der urbanen Umgebung. In Stockholm gibt es keine Gesamtwerke mehr. Alle Schrift wird innerhalb von wenigen Wochen entfernt.

In einer Demokratie werden die Bürgerrechte durch die Verfassung geschützt. Einige der Bürgerrechte, wie das Recht auf Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit, existieren nur im öffentlichen Raum. Auf privatem Grund entscheidet der Grundbesitzer, wer Zutritt hat und was gesagt werden darf. Straßen und Plätze – der öffentliche Raum – ist für alle Bürger offen.

Vor hundert Jahren war das Stimmrecht in Schweden von Geschlecht, Alter und Vermögen des Wählers abhängig. Nur wohlhabende Männer eines bestimmten Alters durften wählen. Heute haben wir das allgemeine Wahlrecht. Wenn der öffentliche Raum der einzige Ort ist, wo Meinungsfreiheit herrscht, wie steht es mit unserem Recht, uns dort auszudrücken? Graffiti ist ein Beispiel dafür, dass ein (in einigen Fällen) gesetzeswidriges Verhalten auch eine politische Aussage ist, eine visuelle Meinungsfreiheit. Writer zeigen, dass der Bedarf, sich auszudrücken, groß ist, dass aber die Möglichkeiten dazu in den meisten nordeuropäischen Städten begrenzt sind. Dennoch ist Graffiti mehr oder weniger von Demokratie abhängig. Wir wissen, auf welcher Seite der Berliner Mauer freies Malen toleriert wurde. Und wir wissen, wann Writing in Osteuropa erschien.

Der Standpunkt gegenüber Graffiti wird also davon geprägt, wo du wohnst, wer du gewesen bist und was du geworden bist. Und vielleicht davon, ob dein Glas halbvoll oder halbleer ist.

5. Kreativität und Initiative

Als ich mit Graffiti anfing, waren die Stilideale in Stockholm streng kontrolliert. Die Szene war altersmäßig homogen. Wie kontrolliert sie waren, entdeckten wir erst, als König Bando von Abtrünnigen wie Aman, HIV, Iano und Ribe abgesetzt wurde. Mit der zunehmenden Heterogenität der Szene ist die Gestaltungsfreiheit gewachsen. In den letzten Jahren hat sich etwas entwickelt, was an den Durchbruch von Free-Jazz in den Vereinigten Staaten erinnert. Die Diamonds Crew aus Berlin, um ein Beispiel zu nennen, hat sowohl Buchstaben als auch Outlines aufgelöst.

Alle Writer, die ich je getroffen habe, lieben es, Stil, Form und Geschmack zu diskutieren. Das sind Themen, die nicht in allen Kreisen selbstverständlich sind. Die Bedeutung des Stils für Graffiti scheint eine Entwicklung zu fördern, durch die viele Writer eine kreative Arbeit bekommen: in der Architektur, Fotografie, Kunst, Mode oder dem Design.

Im Gegensatz zu Street Art ist Graffiti ein geschlosseneres System, wie die meisten künstlerischen Ausdrucksweisen. Von Black Metal und Champagner zum Brutalismus und Fluxus; diejenigen, die sie genießen wollen, sollten Wissen erwerben. Graffiti ist wie Architektur – ein bisschen extra ärgerlich in unserem täglichen Leben, weil es Platz in Anspruch nimmt. Was wir nicht wissen, bleibt unattraktiv. Für manche hört sich Jazz immer gleich an, für andere ist Fußball unverständlich und für die dritten Theater. Es ist eine Frage feiner Einstellungen der Wahrnehmung. Wie bei dem schwedischen Champagnerexperten Richard Juhlin, der 43 von 50 Champagnersorten blind identifiziert.

Deshalb versuche ich, Graffiti-Wissen an so viele wie möglich zu vermitteln. Je mehr Menschen diese hochleistungsfähige Kunst genießen können, desto besser. Sie ist ja immer um uns herum, mit freiem Eintritt! Viele Writer haben auf der Straße ihr „Studio“. Das hat sowohl Vor- wie Nachteile. Wir werden eine Menge unfertigen Stils zu sehen bekommen, aber zur gleichen Zeit können wir die Entwicklung von dem Writer verfolgen. Writer schaffen eine Werkmasse, welche einem „Sound“ gleicht. Je mehr Einzelteile wir sehen, desto vertiefter wird der Sound oder unser Verständnis dafür.

Einen persönlichen Stil zu entwickeln braucht Zeit. Sich Jahr für Jahr zu erneuern, ist nur wenigen gegönnt. Writer sind in ihrem persönlichen Ausdruck genauso „fest“ wie andere Künstler. Akim erzählt, wie er nach neuen Buchstabenformen sucht.15 Auf die gleiche Art, wie wir einen Jackson Pollock oder Frank Zappa stilistisch erkennen, erkennen wir den Stil von einem Writer. Es gibt diejenigen, die versuchen, inkognito zu sein und deshalb Namen und Stil verändern. Das ist selten für sehr lange erfolgreich. Persönlicher Stil, Gefühl und Ausdruck scheinen durch. Ein Nug ist so ungewöhnlich wie ein Miles Davis. Grenzüberschreitung ist gut, aber es bedeutet nicht, dass diejenigen, die in ihrem Fach bleiben, schlecht sind. Vielleicht ist das auch nur eine andere Sicht auf Kunst und Originalität?

6. An was erinnert Graffiti?

Kurz nach dem Durchbruch vom Punk kamen die ersten wissenschaftlichen Theorien darüber. Nach fast fünfzig Jahren gibt es immer noch keine entwickelte Theorie über Graffiti. Dies mag der Grund sein, warum die zeitgenössische Kunst es so verzweifelt schwer hat, Graffiti zu verstehen. Gleichzeitig ist es sicher, wie Jacob Kimvall sagt, dass die Kunst Graffiti eher braucht als umgekehrt. Der Graffitibewegung geht es auf eigene Faust ganz gut.

Um Leuten ohne Vorkenntnisse Graffiti zu erklären, benutze ich in der Regel drei Gleichnisse:

A. Graffiti ist eine urbane Kalligraphie, die sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede zu der traditionellen Kalligraphie hat. Vielleicht befindet sich Graffiti enger an der chinesischen Kalligraphie?

„Kalligraphie ist nichts für Anstifter. Sie basiert auf einer disziplinierten Spontanität, die ohne Regeln und Lehre undenkbar ist. (...) Die Meisterschaft besteht darin, die Freiheit in Bezug auf die Tradition zu erreichen. /... / Alles muss in der Hand vorhanden sein. (...) Der Wille kann nur blockieren. Es hilft nicht, heftig einzuatmen, um sich aufzupumpen. Nur aus sich selbst kann etwas kommen. Was außerhalb unserer Kontrolle ist, versuchen wir uns mit Gewalt anzueignen. Aber das Beste lässt sich nie zwingen. Es kann nur erreicht werden, wie es Kalligraphen erreichen.“, schreibt Sven Lindqvist über Kalligraphie.16 Der Text beschreibt Graffiti genau.

Sowohl Kalligrafie wie Graffiti basiert auf Wiederholung. Jeder muss seine 10.000 Stunden investieren, um einen persönlichen Ausdruck innerhalb des Rahmens erobern zu können. Die Form wieder und wieder und immer wieder wiederholen. Wenn nicht auf Papier, so mit den Fingern in der Luft schreiben. Mein Mentor Track erklärte, dass er so seinen freshen Style eroberte. Die Sozialassistentin von dem Stockholmer Writer Detch schrieb 1985: „Fredrik ist angespannt und hat ein manisches Verhalten (er zuckt mit den Händen).“ Detchs künstlerische Entwicklung wurde als psychische Nervosität interpretiert.

B. Die konstante Übung hat Graffiti mit Kampfkunst gemeinsam.

„Wenn man über jede einzelne Bewegung nachdenkt und versucht, sie zu analysieren, ist man bald in seinem eigenen Kopf gefangen“, heißt es über die Kampfkunst Ninjutsu.17 Der Autor fährt fort: „Weil der Geist den Körper führt (wie es immer in den Kampfkünsten zitiert ist, aber fast niemand es in der Praxis durchführt), ist es offensichtlich, dass ein blockierter Verstand, der mit Gedanken überfüllt ist, von blockierten und unnatürlichen Bewegungen gefolgt ist. (...) Erst übe die Form, dann verlass die Form und dann brich die Form.“

C. Graffiti ist Buchstabenjazz. Als Sonny Rollins im Jahr 1959 auf der Williamsburg Bridge trainierte (um nicht die Nachbarn zu stören), kam er sehr nah an die Arbeitsweise eines Writers.18 Es ist eigentlich recht seltsam, dass Graffiti nicht gleichzeitig mit der Jazzmusik geboren wurde. Es sind Kinder des gleichen Geistes, sie atmen die gleiche moderne Urbanität und Unruhe. Genau wie Writer machen auch Jazzmusiker viele Versionen eines Songs. In der Rockmusik werden alternative Versionen als ein „Bonus“ angesehen. Im Jazz (und im Graffiti) ist jede Version eine eigenständige Arbeit.

„Aber es sagt ja nichts!“, sagen viele über Graffiti. „Nun, was sagt ein Jazz-Song? Oder ein Gemälde von Jackson Pollock?“ Genau wie bei Jazz geht´s bei Graffiti darum, ein Gefühl oder eine Haltung zum Ausdruck zu bringen. Ein Jazz-Musiker spielt nicht genau nach Noten, sondern macht eine freie, persönliche Interpretation.

„Seine Handschrift ist persönlich, so wie sein Gesicht. Er kann es verstellen, aber nicht verändern. Die Handschrift ist das Gesamtergebnis von unermesslichen Jahren der Praxis, von Ereignissen und Gedanken“, schreibt Sven Lindqvist. Ebenso geht es im Writing nicht darum, was da steht, sondern wie es da steht.

7. Die Zukunft von Graffiti

Die Veränderung von Graffiti durch das Internet ist eine schleichende Revolution. Wir haben sie kaum bemerkt, bevor der Wandel eine Tatsache war. Ob sie gut oder schlecht ist, wird die Zukunft zeigen, aber die Dinge haben sich geändert. Einst lebten wir in Informationsknappheit; jetzt ertrinken wir in Eindrücken. Die Website Streetfiles.org hatte fast eine Million Graffitiabbildungen aus der ganzen Welt. Dass einige ältere Writer sich über den Stand der Dinge beschweren, ist natürlich traurig (vielleicht vor allem für diejenigen, die zuhören müssen). Aber der Generationenkonflikt innerhalb der Graffiti-Bewegung ist eigentlich überaus humoristisch. Alte Männer jammern über die Jugend von heute und Jugendliche beschweren sich über verstockte Fossilien. Wie überall in der Gesellschaft.

Die nächste Revolution zetteln vielleicht Rentner an, die immer noch malen. Früher dauerte eine lange Graffiti-Karriere ein paar Jahre. Jugendliche waren Style-Führer der Szene. Heute liefern 40-Jährige neue Ideen. Diejenigen, die bis ins hohe Alter weitermachen, werden immer mehr. Auch in Europa gibt es jetzt Writer, die seit mehr als dreißig Jahren malen. Werden sie weiterhin „kämpfen“, das heißt im Großformat malen, oder werden sie andere Wege finden, um die Zeit zu begrenzen und Energie zu finden? Ich stelle mir ein Graffiti vor, wo Bewegungen und Techniken für wirklich alte Yoda-Writer sich in eine kalligraphische Kampfkunst entwickeln.

8. Tod und Leben von Graffiti

Seen malte „Graffiti died“ in den frühen 1980er Jahren. Zehn Jahre später machten Kaos und Yes ein „Graffiti lives“-Piece am U-Bahnhof St. Eriksplan in Stockholm. Es klang ein wenig verzweifelt, fand ich. Wen versuchten sie zu überzeugen? Damals hatte die Graffiti-Szene in Stockholm ihre erste ernsthafte Krise.

Ich frage mich, ob der Tod als Begriff nicht mehr über die Person sagt, die darüber spricht. Nachdem ich zwanzig Jahre bei einem der ältesten europäischen Graffitimagazine gearbeitet habe, bin ich daran gewöhnt, dass Writer über jede neue Ausgabe jammern, Graffiti für tot erklären, um danach in eine onanistische Nostalgie zu versinken, wie fantastisch Graffiti war, als sie selbst damit anfingen. Natürlich.

Kein Anfänger weiß einen Scheiß über irgendetwas und wir werden von jedem Piece geblendet. Im Westen ist der lineare Zeitbegriff verbreitet und der Tod daher ein beliebtes Konzept in jeder Geschichte und Theorie. Ich möchte an die asiatischen Einflüsse von eben anknüpfen und behaupten, dass die Zeit nicht einer geraden Linie, sondern einem Kreis gleicht, einem Zirkel, in dem die Jahreszeiten aufeinander folgen. Nichts stirbt, sondern es geschieht eine ständige Wiedergeburt. In zwanzig Jahren wird eine andere Writergeneration sich nostalgisch genau an den Punkt, wo wir heute sind, erinnern.

Graffiti kann sehr Unterschiedliches bedeuten. Für den einen ist es ein Werkzeug für eine revolutionierende persönliche und künstlerische Entwicklung, für den anderen eine Katastrophe. Es kann ein Protest gegen die Gesellschaft sein oder ein Sellout. Aber Graffiti ist nicht in erster Linie Widerstand, sondern Für-stand. Writer sind Problemlöser („Hier kann man doch malen!“).

In Stockholm hat es manchmal eine Lücke zwischen den Generationen gegeben, wo die ältere Generation die Szene verlassen hat, ohne ihre Erfahrungen weiterzugeben. Vielleicht sollte die Graffitibewegung ein deutliches Lehrlingssystem haben. Andererseits wäre der Writer dann nicht mehr frei. Die Wahl steht daher zwischen einer qualitativ härter kontrollierten Bewegung oder einer, die freier ist, sowohl für das Individuum als auch die Qualität? Was auch immer sein mag, die Beschäftigung mit Graffiti scheint zu einem ungewöhnlich kritischen Auge zu führen. Viele Writer erwerben so auch politische Ansichten und lernen mit der Zeit, diese sehr gut zu verteidigen. Wir haben bereits ein Beispiel von einem ehemaligen Writer, der Minister wurde.

Graffiti trägt zu größerer Vielfalt im öffentlichen Diskurs bei. Die Writer haben eine Bewegung für visuelle Meinungsfreiheit geschaffen. Stil, Ästhetik, Entwicklung, Ausdrucksbedürfnis und Politik sind einige der Themen, die Graffiti berühren. Ich war lange Zeit in der Graffitimikroperspektive gefesselt. Endlose Gespräche über Buchstabendetails sind von der Faszination für größere Perspektiven abgelöst worden; Demokratie, Urbanität, Bürgerbeteiligung und das Recht auf den öffentlichen Raum. Graffiti ist vielfältig und komplex, so wie das Leben selbst. Darüber will ich weiterhin erzählen.

Ist Graffiti für mehr als die Allernächsten wertvoll? Muss es das sein, um eine Existenzberechtigung zu haben? Darauf kann nur die Zukunft antworten. Aber eines ist sicher. Wir alle, die an der Bewegung teilnehmen, können sie gemeinsam verändern und weiterhin Graffiti spannend machen.

Es dauert nur wenige Minuten, es zu lernen, aber um es zu meistern, brauchen wir ein Leben. Das haben Menschen auf der ganzen Welt entdeckt. Ich vermute, dass wir die ersten in einer langen Tradition sind. Vielleicht wird sie sich ins nächste Jahrtausend fortsetzen.

Ein Text wird immer von mehreren geschrieben, nicht nur vom Autor. Mein Dank geht an Macarena Dusant, Malcolm Jacobson und Jacob Kimvall für neue Blickwinkel und Perspektiven.


  1. Frei nach Jane Jacobs: The Death and Life of Great American Cities 

  2. Craig Castleman: Getting Up – Subway Graffiti in New York, MIT press 1982 

  3. James Surowiecki: The Wisdom of Crowds, Anchor 2005 

  4. Castleman 1982 

  5. Eric B & Rakim: Paid in Full, 4th & Broadway 1987 

  6. Mihály Csíkszentmihályi: Flow, den optimala upplevelsens psykologi, Natur och kultur 1998 

  7. Johan Huizinga: Homo Ludens: A Study of the Play-Element in Culture, Beacon paperback 1955 

  8. Peter Englund: Förflutenhetens landskap, Atlantis 1993 

  9. Jacob Kimvall: The G-word – Virtuosity and violation, negotiating and transforming graffiti, Dokument Press 2014 

  10. Castleman 1982 

  11. Cane: Strong Izland II, Oslo 1990 

  12. Torkel Sjöstrand: Chob THE in Almqvist, Barenthin Lindblad, Jacobson & Sjöstrand: Overground 3 - Trans Europe Express, Dokument Press 2008 

  13. Markus Mai & Arthur Remke: Writing – Urban Calligraphy and Beyond, Gestalten Verlag 2004 

  14. UP #43, 2010 

  15. UP #22/23, 2003 

  16. Sven Lindqvist: Myten om Wu Tao-tzu, Aldus 1969 [von TBL übersetzt] 

  17. Kostas Kanakis: Ninjutsu – Bujinkan Budô Taijutsu Vol 2, Shin-ô no Kihon Waza Werner Kristkeitz Verlag 

  18. Whitney Balliet: Sonny Rollins – Mästarens återkomst [The Return of the Master] in Bo Everling & Rolf Yrlid: Nio jazzliv, Atlantis 2009 

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