Kuhnerts Klage
Wenn die Klage ertönt, scheint das Ende nah. Überwältigt wird, wer sich dem schieren Walten dessen, was zu groß dünkt, ausgesetzt sieht. Mag dem Abgesang noch so sehr lähmende Larmoyanz innewohnen, die die Connaisseure sowohl als auch die Fanatiker in Rage versetzt – das Lamento über den Tod des Graffiti hat sein Fundament in einem Begehren, das dem Graffiti selbst zugrunde liegt. Was dieses sein könnte, lässt sich vielleicht erst »eines Abends, spät in der Zukunft«1 ausmachen. Dass es nach dem verkündeten Ableben seiner Manifestation jedoch wieder in Erscheinung zu treten vermag, bildet die untergründige Hoffnung der Klage: als ob Graffiti bereits zu Beginn seiner Existenz auf einen Holzweg geraten war, den es in einer nur utopisch zu nennenden Zeit verlassen haben wird. Dabei handelt es sich gleichwohl um ein recht eigentümliches Ding, sofern es, zugespitzt formuliert, seit jeher niemals es selbst gewesen ist, sondern in der Welt immer schon als Abdrift seiner selbst existiert hat. Insofern gelangt Kuhnerts Klage weniger zu einem Befund im klinischen Sinne, als dass sie mehr von einer bestimmten Machtlosigkeit der Subversion, die Graffiti verspricht, zeugt. Kritik und Klinik gehen im Lamento eine Verbindung ein, die sich über die bloße Anklage und eine damit verbundene, stets schmeichelnde Angstlust der Dekadenz erhebt, um einer Symptomatologie das Wort zu reichen, die nicht auf Linie gebracht werden kann.2 Nicht ausgemacht also ist, ob das Jammern immer schon die Apokalypse vorwegnimmt oder vielmehr auf eine Empfindsamkeit hindeutet, die die Sache selbst und die mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Wirklichkeiten in Anschlag bringt.
In dieser Hinsicht zentral ist wohl die ›Diagnose‹ zu nennen, dass Graffiti nicht tot sei, eben weil es niemals gelebt habe.3 Was lässt sich fundamentaler kritisieren als jenes, dessen Existenz gewissermaßen unberechtigt die Wände unserer Welt beschmiert – das in ontologischer Hinsicht suspekt scheint. Zweifellos ist, was sich solcher Existenz erfreut, weder lebendig noch gänzlich leblos: Es ist untot. Bereits ihr schieres Übermaß, in dem der Exzess einer Überwältigung durch Graphisches an Realität gewinnt, lässt die Graffiti an einer Lebendigkeit teilhaben, die dem Leben selbst vielleicht abgehen mag und eher dem Tod in seiner Persistenz sowie Permanenz zugeschrieben werden muss. Folgerichtig eignet dem Untoten, das nicht bloße Verneinung des Lebens ist, eine ganz eigentümliche Drift, die immer schon endlose Abdrift: Aufschub und Aufhebung des eigenen Lebens ist.4 Kuhnert beschreibt diesen »blinden Existenz- und Vermehrungswillen«5 von Graffiti, der sich nicht ohne Weiteres tilgen lässt, gerade weil es sich, seiner Klage entsprechend, bereits um totes Leben handelt. Ähnlich Antonin Artauds wütendem Lamento, Gott habe uns bei unserer Geburt entwendet und mit einem untoten Körper, einer untoten Sprache und einer untoten Gestik ausgestattet,6 manifestiert sich im bestehenden Graffiti eine Macht, die jenem, der »eine längst überfällige Fundamentalkritik«7 in Angriff nimmt, zu groß erscheinen muss. Derartige Heimsuchung hat insofern etwas Unzeitgemäßes, als sie das gesamte Paradigma über Bord wirft, um es in jenem dritten Term des Untoten symptomatologisch zu suspendieren. Zugleich kommt darin aber – und das Lamento bewirkt schließlich solche Wendungen des Beklagten – eine Potenz zum Ausdruck, die dem Graffiti eine das Auge buchstäblich bestechende Widernatürlichkeit verschafft, die in der graphischen Natur des Menschen ihresgleichen sucht.
So lässt sich jener tief schürfende Angriff nur verstehen, wenn zugleich klar wird, was er in seiner Fundamentalität wiederum grundlegend verfehlt, um einen derartigen Furor überhaupt entfalten zu können. Weil Graffiti – untote Graphie – die Welt immerzu heimsucht und jeglicher Versuch, das Untote seinem endgültigen Tod zuzuführen, bislang gescheitert ist,8 kann es nicht in derselben Gründlichkeit kritisiert werden wie etwa eine bestimmte politische Entscheidung. Dass Kritik sich fundamental dünkt, ist stets noch in einem Phantasma bedingt, dessen Anspruch auf Absolutheit selbst wiederum kritisierbar erscheinen mag. In ihrem durchaus delirant zu nennenden Rundumschlag aber hat sie zugleich den Stachel, dessen es bedarf, um jene absolut grundsätzliche Verstellung – von der Geburt des Graffiti an – überhaupt erst anprangern zu können. Es braucht schon einigen Wahnsinn und schiere Verzweiflung, um ein Phänomen als solches in seiner bloßen Existenz anzugehen, doch sollte hierbei nicht die Luzidität der Klage selbst aus den Augen verloren werden. Das Lamento, zumal ein weltumfassendes, zeugt von einem Leiden, das sich ausweglos wähnt und die Intensität dessen, was vormals das Versprechen der Befreiung trug, nicht mehr verspürt. Dass dabei rückwirkend der Anfang schon als Beginn des Endes dargestellt wird, macht die Fundamentalkritik zu einer durchaus zweischneidigen Sache, weil damit das Ganze – als Falsches – infrage steht und nicht mehr einsichtig wird, ob es je hätte richtig sein können oder ob es vor Eintritt des Falschen überhaupt je etwas Richtiges gab. Wer den Grund aufreißt, hat es zunehmend schwer, davon zu künden, wie es sein könnte.9 Dennoch scheint sich die Klage zunächst einmal nur Bahn brechen zu können, wenn sie alles mit sich reißt – und es ist schließlich an jenen, die die Klage vernehmen, ihr einen poetischen und damit kritischen Sinn zu verleihen, der weniger das beklagte Phänomen als vielmehr die Zeit, in der es seinem Untergang geweiht ist, problematisiert.
Einmal das Unwesen von Graffiti festgehalten, lassen sich Kuhnerts Ausfälle – die, auch dies ein Aspekt des Lamento, wie bei einer Geißelung gegen ihn selbst, dessen Kritik »von innen kommt«,10 gerichtet sein müssen – als notwendige Beleidigungen einer Szenerie verstehen, die durch Selbstgefälligkeit und Affirmativität an die Grenze ästhetisch-kritischen Stupors gelangt ist. Man täusche sich nicht: Es handelt sich dabei um ein Widerfahrnis, das alles und jeden heimsucht, zumal die kapitalistische Produktions- und Imaginationsweise als eben diese Heimsuchung funktioniert. Insofern geht es mit der Fundamentalkritik des Graffiti etwas durch, wenn sie das Phänomen dermaßen an die große Vereinnahmungsmaschine kettet – um ihm dann folgerichtig vorzuwerfen, keinen subversiven Impuls, kein kritisches Potenzial entfalten zu können. Es verwundert nicht, dass die Klage alles in den Dreck zieht, weil sie letztlich am Dreck, in dem alles zu stehen kommt und dem man nicht entkommt, interessiert ist. Dass dabei dem Graffiti allein die Bürde auferlegt wird, eben diese Flucht aus dem Verhängniszusammenhang zu leisten, mutet umgekehrt eher hilflos an und sollte uns Leser/innen wiederum auf das Leiden verweisen, das in dieser schamlosen und teils auch schäbigen, weil maßlosen Klage beredt wird. Übermäßig und damit kolossalisch ist der Zwangscharakter bestehender Gesellschaft, dem scheinbar nicht beizukommen ist und vor dessen Hintergrund das nunmehr zum Selbstzweck verkommene und stilistisch konservative Wändebeschmieren sogleich recht blass anmuten muss. Doch resultiert solche Blässe zunächst einmal aus dem Phantasma der Kritik selbst, sofern ihr ebenso kolossales Scheitern die Hoffnung auf eine andere Ordnung vollends zunichte gemacht hat – der Ausweg scheint versperrt, und Graffiti hat, wie letztlich alles, seinen Anteil daran: »Graffiti ist eher Spiegel und Stabilisator der Gesellschaft als subversives Zerrbild.«11
Wie bei Todesanzeigen immer stellt sich die Frage, ob das Verstorbene nicht doch in anderer Form wiederkehren und ein seltsames Nachleben führen wird. Denn bislang konnte noch alles, was je in die Existenz gelangte, irgendwie fortleben, ja durch die Verkündigung seines Todes schwang es sich gar zu neuem Leben auf. Einst war die Kunst an ihr Ende gelangt, schließlich die Philosophie, dann die Geschichte und zuletzt noch jene Theorie, die immerfort ein Ende prophezeite – so gibt es nach dem Tod nur ein Leben als Untotes. Dass nun Graffiti in diese illustre Reihe aufgenommen wird, sollte ihr schöpferisches Potenzial, das unverwirklicht in der eigenen ungelebten (Vor-)Geschichte zu ruhen scheint, kenntlich machen. Gerade die Entlarvung des »Systems Graffiti« als »gigantischer Selbstbetrug«12 hat uneingeschränkt aufklärerischen Charakter; ein absolutes Ende ist damit keineswegs verzeichnet. Und so schreitet die maßlose Klage, indem sie das System Punkt für Punkt durchleuchtet, doch auch voller Erwartung voran, um Illusionen aufzudecken, aus denen falsche Annahmen und Trugschlüsse resultieren.13 Wer würde schon – und sei es Defätismus, der in die Tasten hauen lässt – »eine persönliche Aufarbeitung und Abrechnung« verfassen, wenn unterhalb von Enttäuschung und »akuter Entfremdung«14 nicht doch der Wunsch fortbestünde, dass alles anders sein könnte: »Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ›sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung‹.«15
Daher ist es durchaus müßig, auf einzelne Kritikpunkte des Pamphlets einzugehen, um sie etwa zu entkräften, zu relativieren oder gar anzunehmen. Glaubt Kuhnert selbst schon nicht »an umfassende Reformen«16 des Systems von nunmehr (oder immer schon) warenförmigen Graffiti, so sollte man angesichts seiner Klage auch nicht auf deren teilweise Reformierung setzen. Entweder schlägt sie mit voller Wucht durch, erzeugt Abneigung, Widerspruch, vielleicht Zustimmung, oder sie prallt ab und hinterlässt Rat- und Interesselosigkeit. Dies ist das Problem mit fundamentalen Kritiken: Sie lassen sich nicht zähmen, indem ihre Teile, aus denen sie notwendig bestehen, einer Prüfung unterzogen werden, da das Ganze des Lamentos einen Überschuss erzeugt, der über die beklagten Einzelheiten vollends hinausweist. Ohne Zweifel weiß der klagende Kuhnert, dass es sich nicht in Gänze so verhält, wie er es in seiner leidenschaftlichen Rede vorbringt, und dennoch kommt er nicht von jenem Furor los, der ihn das Ganze dem Tod geweiht sehen lässt: ›Ich weiß sehr wohl, dass Graffiti nicht im Ganzen verkommen ist, aber trotzdem schreibe ich so, als wäre es immer schon eine Totgeburt.‹ Darin äußert sich ein psychotischer Zug, der allem Grundsätzlichen grundsätzlich eignet, sodass es nur dann in den Horizont des Verstehens rückt, wenn seine phantasmatischen Spitzen, die sich – da imaginär – nicht recht kontern lassen, in Betracht gezogen werden. Anders gesagt, man muss dem Lamento Glauben schenken und seinem Leiden geduldig Raum geben, ohne alsgleich in eine Haltung zu verfallen, die jener einer beleidigten Leberwurst nahe kommt. Die fundamentale und damit, in einem gewissen Sinne, immer auch bodenlose, unstillbare Empörung über die Verfallsgeschichte eines Phänomens, dessen »verborgener idealistischer Kern«17 allenthalben unverwirklicht geblieben ist, sollte angenommen und dahingehend gewendet werden, eben jenem Kern zu neuer Wahrheit zu verhelfen.
Kuhnerts Klage wird dergestalt zu einer recht infamen Mahnung, sofern sie jegliches reformistische Ansinnen von sich weist, um, wie lamentierend auch immer, an eine ungleiche Treue, wenn nicht gar ein Bekenntnis zur Wahrheit des Graffiti zu appellieren. Überhaupt haben wir es hier mit einem fast schon verzweifelten Aufruf zu tun, dem vielleicht restlos verschwundenen Ereignis Graffiti eine zweite Geburt zu verschaffen. Alles, was dieses Ereignis bisher verwirklicht hat, muss gegenverwirklicht werden: Untote Graphie muss lebendiges Graffiti werden. Jedoch ist es nicht Sache der Klage, hier den Weg zu weisen, handelt es sich doch um ein unauslotbares Revolutionär-Werden, in das treuherzige »Graffitisten« geraten – oder nicht.
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Samuel Beckett: Das letzte Band. ↩
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Man lese hierzu Gilles Deleuzes Aufsätze zur Literatur in dem Band Kritik und Klinik. ↩
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Vgl. Kuhnert, Kap. VII. ↩
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Das Leben ist bloßer Umweg zum Tod hin – Todestrieb, so in Sigmund Freuds großem spekulativem Aufsatz Jenseits des Lustprinzips. ↩
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Kuhnert, Kap. II. ↩
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Etwa Antonin Artauds Schluss mit dem Gottesgericht. ↩
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Kuhnert, Vorbemerkung. ↩
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Solange der Mensch in bestimmter Hinsicht durch den Graphismus fundiert ist, wird Graffiti als humanes Radikal bestehen bleiben; so zumindest André Leroi-Gourhans Hand und Wort. ↩
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Dieses Problem beschäftigt Theodor W. Adornos Negative Dialektik. ↩
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Kuhnert, Vorbemerkung. ↩
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Kuhnert, Kap. VII. ↩
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Kuhnert, Kap. XV. ↩
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Dies die klassische Aufklärung im Sinne von Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft. ↩
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Kuhnert, Nachbemerkung. ↩
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Theodor W. Adorno: Sur l'eau. ↩
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Kuhnert, Nachbemerkung. ↩
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Kuhnert, Nachbemerkung. ↩
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