The Death of Graffiti

Graffiti und Kapitalismus

Moritz Klein

Wes Geistes Kind das Phänomen ist, um das es hier geht, verrät schon Zeit und Ort seiner Geburt. In den letzten Tagen der fordistischen Wirtschaftsordnung, im „Land of the free and the brave“, kurz bevor der neoliberale Turn die letzten Nischen des Unzweckmäßigen schloss und die totalitäre Herrschaft der Selbstverwertung errichtete, erblickte Graffiti das Licht der Welt. 1973 – die Ölkrise spitzt sich zu, die U.S.-amerikanische Wirtschaft steckt in der Rezession, die Nachfrage geht zurück, Löhne sinken, Arbeitslosigkeit steigt, sozialstaatliche Leistungen werden gekürzt. Währenddessen treiben sich ein paar unterprivilegierte Kids in den Lay-Ups herum und schreiben ihre Namen auf die Subway.

Wo ist der Zusammenhang?

Zäumen wir das Pferd von hinten auf, ausgehend von der Enttäuschung, die so manchen (männlichen, mitteleuropäischen, weißen, akademisch gebildeten) Writer angesichts der Erkenntnis packt, dass es die Epigonen dieser New Yorker Kids stark an politischem Bewusstsein, sozialem Engagement, Nonkonformität, utopischer Vorstellungskraft und kritischer Distanz zum Zustand der Wirklichkeit mangeln lassen. Graffiti hat, frei nach Marx, keinerlei Bestrebungen, die Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Dieser Kritik, wie sie verschiedentlich auch in TDOG geäußert wird, ist zuzustimmen. Die Frage ist nur: Sind die Ansprüche, die TDOG an Graffiti stellt, gerechtfertigt? Was sind die impliziten Prämissen? Welche normativen Setzungen liegen ihnen zugrunde? Handelt es sich nicht zumeist um eine moralische Kritik an den Urhebern?

Oder anders: Kann man von einer Kunstform erwarten, dass sie politisch, kritisch, fortschrittlich und emanzipativ ist? Und will man das überhaupt? In den Neunzigern war Techno ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt, bis man gemerkt hat, dass sich darauf einfach besser tanzen lässt als auf Punk. Fangen wir nicht an mit Lady Gaga. Egal, um welche Kunstform es geht: Sinn und Daseinsberechtigung bezieht sie nicht primär aus der Vermittlung politischer Inhalte oder einem kritischen Bewusstsein, sondern aus einer vorintellektuellen Fähigkeit zur Erzeugung sinnlichen Genusses und ästhetischer Erfahrung.

TDOG verwischt zwei kausal nicht unmittelbar zusammenhängende Elemente: Das singuläre ästhetische Werk, das bildliche „Produkt Graffiti“ und die Produktionsbedingungen, das „System Graffiti“, nach dessen Maßgaben die bildlichen Produkte hergestellt werden (was auch die gesamte Szenesoziologie umfasst). Dabei ist gerade die Trennung wichtig, um zu sehen: Graffiti ist Kunst, die Verhältnisse sind scheiße, Graffiti hat dasselbe Kapitalismusproblem wie jede Kunst, fügt sich aber weder als bildliches Produkt noch als kulturelle Praxis nahtlos in die kapitalistische Ordnung ein. Wohl aber sind die Menschen, die Graffiti produzieren, dieselben, die auch Brötchen backen, Autos bauen und Aktien verkaufen.

Graffiti ist genuin unpolitisch, es ist egomanisch im besten Sinne. Es geht um das Schreiben des eigenen Namens – also keine Message, kein kritischer Standpunkt, der vermittelt werden will. Kein streetart- und kleinkunstmäßiges Zum-Nachdenken-Anregen. Nichts als ein hochstilisiertes „I am“. Und damit nicht genug. Das, was da in Graffitiform steht, wird durch das Schriftbild auch noch so codiert, dass es für niemanden außerhalb der Szene lesbar ist. Der Verwendungszusammenhang des Alphabets, aus dem man für gewöhnlich Worte und Sätze mit konventionellem Sinn formt, ist im Graffiti ein explizit asozialer. Man hat nicht nur nichts zu sagen, man sagt es auch noch auf unverständliche Art. Ein universelles, implizites „Fuck you“.

Der Gebrauch des Buchstabens in einer scheinbar willkürlichen Aneinanderreihung stellt die radikale Negation nicht nur eines Weltbezuges dar, sondern auch die böswillige, weil die eigenen Mittel missbrauchende Ablehnung eines zugänglichen Dialoges. Das primäre Mittel der Kommunikation, den Grundstein der abendländischen Kultur, zweckzuentfremden, es dem allgemeinen funktionalen Gebrauch zu entreißen und zu etwas Persönlichem, fast Intimem, zu seinem Namen zu machen, ist Ausdruck einer radikalen Selbstbezüglichkeit und Reduktion des Individuums auf sich selbst. Das ist nicht politisch, aber es ist subversiv. Auch wenn man Baudrillard nicht folgen möchte in seiner – trotz aller Kritik – schönen Interpretation von Graffiti als „Aufstand der Zeichen“, muss man doch zumindest anerkennen, dass Graffiti ein Zeichensystem kapert, zweckentfremdet und den semantischen Gehalt von konventionellen Sprachzeichen negiert, aber seine Verweisfunktion aufrecht erhält und mit einem dicken fetten Ego ausfüllt, neben dem nichts anderes mehr Platz hat. Alles Weitere, was daraus folgt und uns hier beschäftigt, ist nicht unbedingt schön, aber es ist konsequent.

Um eine Passage aus TDOG abzuwandeln: Graffiti hat seine Ideale nicht verraten, es hat nie welche gehabt.

Es gibt also keinen Grund, enttäuscht zu sein.

Wie alle anderen kulturellen Hervorbringungen ließe sich auch Graffiti symptomatisch lesen. Hier tritt etwas zutage, das den sozioökonomischen Verhältnissen und dem daraus resultierenden Bewusstseinszustand (um es mit Marx und dem vom gesellschaftlichen Sein bestimmten Bewusstsein zu halten) eine Form und einen materiellen Niederschlag gibt. In dieser Perspektive fungieren die Akteure als Medium, wodurch eine gesellschaftliche Realität manifest und begreifbar wird, die sonst nur prädikativ beschreibbar ist.

Im Symptom „Graffiti“ tritt der neoliberale „state of mind“ auf so prägnant-überspitze Art und Weise zutage, dass seine Absurdität bzw. Widersprüchlichkeit offenkundig wird. Graffiti ist eine öffentliche, ungesteuerte Visualisierung der Folgen kapitalistischer Vergesellschaftung.

Fangen wir also damit an, Graffiti auseinanderzunehmen – verstehe deinen Feind:

1) Individualismus und Massenkultur

Graffiti ist, wie eingangs bereits erwähnt, als Krisenphänomen geboren.

Die Lösung, die Graffiti für diese Krise anbietet, ist eine radikal subjektivistische. Sie sagt: Ohnmacht, Verunsicherung, Marginalisierung, Perspektivlosigkeit – fuck it! Ich schreibe meinen Namen auf Züge, also bin ich. Die Verhältnisse sind mir egal, daran kann ich ohnehin nichts ändern. Aber ich kann mich selbst retten, meinen Stolz und mein Selbstwertgefühl. Ich kann genau dasselbe erreichen, was andere durch Macht bzw. Geld – die Besetzung des öffentlichen Raumes – oder durch jahrelange Arbeit und Talent – den Ruhm des Künstlers – erreichen. Das ist die Instant-Gratifikation, die Graffiti verspricht.

2) Arbeitsteilung, Produktivitätsoptimierung, Faschismus

Auch die in pfadfinderhaften Freundschaftsoden besungene und zum Familienersatz romantisierte Graffiti-Crew kann als rein zweckmäßiger Zusammenschluss zur Erreichung eines Ziels (Fame) betrachtet werden. So wie die Fabrik, um ein Beispiel aus dem letzten Jahrhundert zu nehmen, der Organisation der Arbeit der Lohnabhängigen und nicht dem freien Zusammenschluss gleichberechtigter Individuen dient, also eine rationale Maßnahme zur Steigerung der Produktivität darstellt, so basiert auch die klassische Graffiti-Crew auf einem der Grundgedanken der industriellen Revolution: Arbeitsteilung. Der King zieht vor, der Toy füllt, der Crew-Baba sitzt zu Hause auf dem Sofa und kassiert den Fame auf Tumblr.

In der klassischen Graffiti-Crew finden sich auch Hierarchien und Machtverhältnisse wieder, wie man sie von martialischen Männerbünden kennt, etwa beim Militär, bei Motorradclubs, studentischen Verbindungen oder sonstigen rohen und stumpfsinnigen Gruppierungen, in denen nach unten getreten und nach oben gebuckelt und zwischendurch gesoffen wird.

Die Gesellschaftsform „Crew“ kann mitunter sogar totalitäre oder faschistische Züge aufweisen, wenn sie die vollkommene Auflösung des Individuums in der Gruppe einfordert (also den Verzicht auf den eigenen Namen) und damit die totale Unterordnung des eigenen Willens unter den übergeordneten Willen des Kollektivs.

3) Privateigentum und Akkumulation

Das grundlegende Prinzip kapitalistischer Gesellschaftsordnung ist das Privateigentum. Wie es in TDOG so schön heißt: Graffiti möchte nicht die Privilegien der Elite abschaffen, es möchte selber in diesen Genuss kommen.

Aus der Tatsache, dass Graffiti illegal ist, folgt erst einmal gar nichts. Muss derjenige, der etwas Illegales vollzieht, auch das zugrunde liegende Rechtsprinzip abschaffen wollen? Geh mal in die Hasenheide und frag einen der jungen Männer, ob er möchte, dass Marihuana legalisiert wird. Und es geht noch weiter: Das Prinzip der Famemaximierung im Graffiti entspricht dem Prinzip der Kapitalakkumulation (also des Privateigentums) im Kapitalismus.

Das materielle Bild, das Graffiti-Werk, ist nur Tauschwährung. Es besitzt keinen Wert an sich, sondern ist nur Statthalter.

Was produziert und akkumuliert werden soll, ist Fame. Demzufolge wäre das Markertag die kleinste Währungseinheit im Graffiti (die 1 Cent Münze), der Subway-Full-Color-Oneman-Wholetrain ist die größte (der 500 Euro Schein – und ebenso wie diesen hat man auch jene nie gesehen). In der Terminologie der Marxschen Wertkritik gesprochen: Graffiti produziert keinen ästhetischen Nutzwert, sondern in erster Linie sozialen Tauschwert, also Achtung, Anerkennung, Respekt, was auch immer man in seiner Peer-Group für ein Panel in Traffic bekommt.

4) Vom Dorfbomber zum Subwayking

Graffiti ist nichts anderes als eine Spielart des „American Dream“: Statt vom Tellerwäscher zum Millionär wird man im „System Graffiti“ vom anonymen Nobody zum anonymen Untergrundstar. Egal, wer du bist und woher du kommst, jeder kann es schaffen, durch Fleiß und harte Arbeit. Dieses egalitäre Leistungsprinzip ist das amerikanische Erbe im Graffiti. Jeder kann mitmachen, aber wenn Du scheiterst, bekommst Du kein Mitleid. Jeder ist seines eigenen Fames Schmied.

Graffiti bietet, wie gesagt, ein radikal individualistisches Heilsversprechen: Es denkt das Subjekt nicht in seinem gesellschaftlichen Zusammenhang, sondern als Einzelkämpfer, der es, allein durch harte Arbeit und Fleiß, bis nach ganz oben schaffen kann. Der kapitalistische Grundzustand also: Jeder gegen jeden. Graffiti reproduziert diese Konkurrenzsituation, in der sich Individuen in der freien Marktwirtschaft befinden, und individualisiert Scheitern und Erfolg. Wenn du gebustet wirst oder keinen Fame hast, hast du eben nicht gut genug gecheckt oder nicht hart genug gebombt. Diese Konkurrenzsituation kommt auch hinsichtlich der knappen Ressource „Spots“ zum Tragen: Wer zuerst kommt, malt zuerst. Ein Verteilungswettkampf im klassischen Sinne.

5) Prekarität

Um Produktivität und Leistungsbereitschaft aufrecht zu erhalten, wird das lohnabhängige Individuum in der neoliberalen Wirtschaftsordnung in einen Zustand permanenter Prekarität versetzt. Mittels befristeter Verträge, leistungsabhängiger Entlohnung, Outsourcing, Untergrabung von Arbeitnehmerrechten, Konkurrenzdruck und Verdeutlichung der generellen Ersetzbarkeit eines jeden Arbeitnehmers wird ein konstanter Leistungsdruck aufrecht erhalten, der das kapitalistische Hamsterrad am Laufen hält. Wer nicht unablässig strampelt, fliegt raus.

Ebenso verhält es sich mit dem Kapital, das niemals ruhen darf. Sobald es nicht produktiv ist, schrumpft es.

In einer analogen Situation befindet sich der Writer, allen voran der Trainwriter: Wer nicht konstant produziert, ist irgendwann, in der Regel sehr bald, ausgelöscht.

Alles, was an bildlichem Output je erzeugt wurde, das Gesamtwerk des Writers, ist akut bedroht – wenn nicht vom Buff, so doch vom Zahn der Zeit. Irgendwann ist auch das letzte Tag verblichen, übermalt oder gebufft. Und damit eine Writerexistenz ausgelöscht.

Der Status des Kings, sollte er jemals erreicht worden sein, ist so prekär wie der Angestelltenstatus des Kassieres bei Lidl. Beide müssen permanent gegen den Untergang ankämpfen. Konkret bedeutet das: den Verlust der eigenen Identitätsgrundlage. Die gesellschaftliche Identität des Individuums im Kapitalismus definiert sich über seine Arbeit. Für das Subsystem Graffiti gilt dasselbe: Du bist das Produkt deiner Arbeit.

Graffiti ist nicht explizit-kritisch, Graffit ist implizit-subversiv und deswegen doch politisch. Aber nur – das haben wir schon oft genug gehört – der Geste nach. Das unautorisierte Anbringen von whatever im öffentlichen Raum ist per se politisch, eben weil es unautorisiert ist und in der Öffentlichkeit stattfindet. Dieser Minimaldefinition zufolge ist also auch das auf dem Regenbogen reitende Streetart-Pony politisch. Der politische Impetus von Graffiti bewegt sich auf einem ähnlichen Niveau. Man sollte Graffiti in dieser Hinsicht also nicht zu viel zutrauen – oder zumuten.

Jedoch: Graffiti als Praxis führt zu einer renitenten Lebensform, die mit einer neoliberalen Ideologie der Selbst--optimierung und -verwertung, dem Selbstverständnis des Individuums als Ware auf dem Arbeitsmarkt, der generellen marktkonformen Ausrichtung des Lebens auf Funktionalität unvereinbar ist.

Man handelt möglicherweise nach denselben oder zumindest ähnlichen Prinzipien, aber mit einem gegenteiligen Ergebnis. Jeder, der nach einer durchgemachten Nacht morgens in der U-Bahn zusammen mit den Heerschaaren Werktätiger nach Hause fährt, spürt diesen Gap. Wer tagsüber schlafen und Fotos machen muss, hat nicht mehr viel Zeit, um ein produktives Erwerbsleben zu führen.

Graffiti und Kapitalismus sind nicht ideologisch, aber physisch unvereinbar.

„Graffiti ist ein 24-Stunden Job, so wie ich ihn mag.“, wusste schon Der Lange. Daneben noch anderen Jobs nachzugehen, gelingt nur auf niedrigem Niveau und sicherlich nicht nach den Vorgaben der optimalen Selbstverwertung (d.h. man kann wohl irgendwie seine Brötchen verdienen, aber kein aktiver Writer wird nach herkömmlichen Kriterien „Karriere machen“).

Anders als Fitnessstudio, Jogging, Workout jeglicher Art, ist Graffiti keine Form von Freizeitbeschäftigung, die einen funktionstüchtig hält für den Berufsalltag (siehe die Hobbykritik von Adorno).

Eher führt Graffiti, zumindest langfristig auf hohem Niveau betrieben, zu gesellschaftlicher Marginalisierung, zu Eigenbrötlertum, Kautzigkeit, Verschrobenheit, kurzum zu dem, was der Mehrheitsgesellschaft als Freak gilt.

Neben diesen praktischen Gründen gibt es noch weitere inhaltliche Momente im Graffiti, die dem Geist des Kapitalismus und der totalen Herrschaft der Zweckrationalität entgegen stehen:

Graffiti ist nicht warenförmig und kann, in seinem ursprünglichen Zustand, keine Warenform annehmen. Das Werk bleibt unverfügbar und entzieht sich der Kontrolle des Urhebers. Nicht nur physisch, sondern auch juridisch: Der Urheber kann keine Rechte an seinem Werk geltend machen, es bleibt weiter Teil des öffentlichen Raumes und für jedermann zugänglich.

Bei jeder Form medialer Reproduktion verhält es sich natürlich anders, aber Fotos und Filme bleiben Derivate des ursprünglichen Werks und bewegen sich in einer anderen Ordnung.

Die Unverfügbarkeit des Graffitiwerks (also des Produkts der Arbeit des Writers) beschränkt sich nicht nur auf seine physische Konstitution, sondern umfasst auch den eingangs bereits erwähnten Aspekt der Zeitlichkeit: Graffiti ist flüchtig und nicht konservierbar. Es kann nicht bewahrt werden, weder im Tresor noch unter UV-Schutzglas in exakt temperierten Museumssälen mit Luftfeuchtigkeitsregulatur. Das Graffitiwerk ist im Moment seiner Fertigstellung schon der alles langsam und gleichgültig zersetzenden Zeit übergeben, die nichts überdauert. Dementsprechend ist Graffiti nicht akkumulierbar. Mehr als an das Anhäufen von Kapital erinnert die Tätigkeit des Writers an Techniken buddhistischer Mönche zur Verinnerlichung der Vergänglichkeit alles irdischen Seins wie z.B. das „Waldfegen“ (bei dem Mönche das Laub im Wald zusammenfegen, im Wissen, dass es am nächsten Tag wieder genauso aussieht wie zuvor). Die vollkommene Vergeblichkeit des menschlichen Strebens, etwas Bleibendes zu schaffen, etwas erhalten zu wollen. Und damit auch eine Absage an die Möhre, die der Kapitalismus dem lohnabhängigen Esel vor die Nase hält: Mach was aus deinem Leben; sei produktiv; schaffe, schaffe, Häusle baue. Nein, Graffiti sprühen heißt sterben lernen.

Auch der Writer weiß, dass das Produkt seiner Tätigkeit sehr bald wieder verschwunden sein wird. Ungeachtet dessen nimmt er erhebliche Mühen, Kosten und Risiken auf sich, um dieses kurzlebige Produkt herzustellen. Eine Praxis der Vergeblichkeit. Und eben dieses Praxis-Moment ist von besonderer Bedeutung. Es geht im Graffiti weniger um das bildliche Produkt als um die Tätigkeit selber, um das Ritual.

Vieles am Graffiti-Ritual mutet mystisch an: die Technik der Selbstentäußerung und Ich-Vervielfältigung, der fest reglementierte Ablauf der Vorbereitung und Durchführung, die Tatsache, dass alles vorzugsweise um Mitternacht bei Vollmond stattfindet, das Maskenspiel und die geheimen Ordensnamen, der Rauschzustand, die Entrückung, die absolute Ich-Vergessenheit, das Tänzerische und Körperliche beim Malen, die Euphorie und die Verbrüderungsrituale danach, das seltsam erhabene Gefühl beim Anblick des bildlichen Kaffeesatzes am folgenden Tag, das sich an der eigenen Macht ergötzt und gleichzeitig davor erschrickt. Von Voodoo und Schamanismus ist das alles nicht weit entfernt.

In einem Meer der ökonomischen Vernunft und technischen Nüchternheit, unter einem warenbehangenen Himmel von Verwertungsdenken ist Graffiti eine Insel, auf der wohl nicht die Blumen der Kritik und Emanzipation blühen, wo aber nachts die Geister spuken und mit ihren Ketten klappern.

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