The Death of Graffiti

Graffiti Zombies

Frank Hartmann

Eine Kritik der sich selbst überschätzenden Graffiti-Szene in deutschen Städten war längst überfällig. Erst mal Hut ab dafür, dass dieser Versuch von Oliver Kuhnert überhaupt gemacht wurde. Leider funktioniert seine Kritik aber ganz und gar nicht, weil sie denkbar unscharf bleibt und in wesentlichen Punkten daneben liegt. Worum geht es ihm denn? Um eine Provokation der Berliner-oder-sonst-wo-Szene? Etwa um Rache für eine enttäuschte Jugendliebe? Vielleicht auch um die Sehnsucht nach einer verpassten Revolte?

Nun hat Kuhnert Philosophie studiert, also sollte er auch wissen, was eine Argumentation ist. Daran mangelt es ihm, das Zielobjekt seiner Ausführung ist jedenfalls nicht ganz klar und für eine wirkliche Analyse greifen die Ausführungen auch zu kurz. Das gelänge nur mit Fallbeispielen. Er vermischt das Phänomen Graffiti, das weit in die Kulturgeschichte zurückreicht, mit Werk und Intention von zeitgenössischen Trends unter Writern und deren Kommerzialisierung.

Die kulturwissenschaftlich noch nicht wirklich aufgearbeiteten Anfänge dieser Trends liegen im New York der 1970er Jahre, bei genuin poetisch-künstlerischen (dazu rechne ich „SAMO©“ von Jean-Michel Basquiat) oder subkulturellen Writer-Praktiken („Taki183“ u.v.a.), aber auch in Chicago sowie Los Angeles – sowie, völlig unabhängig davon, beim Pixação in São Paulo. An sozialen Brennpunkten mit ethnischen Konflikten also. Ohne diese anzusprechen, kann eine Diskussion über Graffiti überhaupt nicht stattfinden, sonst nimmt sie selbstreferenzielle Formen an und wird damit Teil dessen, was man doch kritisieren möchte. Doch in Deutschland steht Graffiti nicht mit solchen Konflikten in Verbindung, sondern mit Distinktionsritualen in Subkulturen.

Ob man bei den Nachwirkungen und Nachahmungen in Europa wirklich von einer „Szene“ oder einer Bewegung sprechen kann, möchte ich daher in Zweifel stellen, da dies eine ideologische Homogenität suggeriert, die sicherlich nur in der Vorstellung einiger weniger Insider existiert. Also müsste man fokussieren und benennen, wovon genau denn die Rede ist – das wäre die Grundregel der Analyse. Eine Szene kann man beobachten und beschreiben, aber nicht „analysieren“, außer es gibt ein deutlich benanntes Erkenntnisziel.

Eine persönliche Enttäuschung von Erwartungen zählt dabei leider nicht. Es wäre empfehlenswert gewesen, weniger selbstquälerisch zwischen Polemik und Manifest zu changieren. Die Diagnose des enttäuschenden Konventionalismus im gegenwärtigen Graffiti verbindet sich mit dem problematischen Habitus des Intellektuellen, der vorgibt zu wissen, was eigentlich Sache ist. Was ja freundlicherweise unausgesprochen bleibt.

Nicht zufällig wird mit Jean Baudrillard ein intellektueller Joker eingesetzt. Dieser akademische Tourist aus Paris war mit den subkulturellen Codes von New Yorks Graffiti leider gar nicht vertraut. Sein Essay hat dem Diskurs nie gut getan, er setzte vor dem Hintergrund enttäuschter marxistischer Revolutionshoffnung der 68er-Bewegung den fatalistischen Mythos von Graffiti als Botschaft ohne Bedeutung in den Raum. Doch die von ihm unterstellte „Referenzlosigkeit der Zeichen“ war schlicht und ergreifend Unsinn, geboren aus theoretischer Hybris, die sich genauere Beobachtung schenkt und schlaksig formuliert ist.

Erst mit dieser Unbestimmtheit jedoch konnte jenes geschichtsphilosophische Phantom entstehen, welches angeblich den „Aufstand der Zeichen“ übt. Es ist schlicht epigonal, diesem poststrukturalistischen Autor Respekt zu zollen und von einer „historischen und sozioökonomischen Betrachtungsweise“ zum Thema Graffiti zu sprechen. Man muss halt auch mal woanders hinschauen, denn wer glaubt, dass Graffiti keine Botschaft habe, sollte Länder besuchen, in denen es politische Konflikte und soziale Unruhen gibt (von Ägypten über Türkei bis Brasilien), und sich fragen lassen, warum die Künstler dort verhaftet und ihre Werke zerstört werden (wie aktuell in Kairo oder in China).

Es gibt eine tiefere Bedeutung von Graffiti in der Kultur als die der pubertären Pieces: das ist die Herstellung von Gegenöffentlichkeit, und diese ist ganz sicher nicht tot. Wie der französische Philosoph Michel Serres in einem Text über Beschmutzung ausgeführt hat, markieren alle Lebewesen Orte, die sie bewohnen, durch gezieltes Verschmutzen, um sie sich anzueignen. Pflanzen schützen ihre Nahumgebung durch Absonderung von gewissen Säuren, Tiere markieren ihr Revier mit ihren Exkrementen, und Vögel durch ihren Gesang, der oftmals ja alles andere als lieblich klingt: „das Eigene wird erlangt durch das Schmutzige“.1) So haben viele Zeichen mit Eigentum und Distinktion zu tun, jeder Besitz braucht die symbolische Form seiner Bestätigung: damit entstanden in jeder Kultur Verträge, Brandzeichen, Tätowierungen, Ringe, etc. – und auch Graffiti gehören in diese Kategorie.

Seit etwa einem Jahrhundert wird das Zeichenregime der Öffentlichkeit zunehmend vom Corporate Business bestimmt. Graffiti setzen immer wieder Akzente gegen die schleichende Enteignung unserer Lebenswelt durch die hegemonialen Botschaften der Konsumkultur. Es geht mehr um Einspruch, Abgrenzung und Widerrede als um den Aufstand. Nicht um die Faszination der illegalen Botschaft willen, sondern um jene semiotische Aufladung, mit der geläufige Kommunikationen im öffentlichen Raum attackiert werden. Daraus leitet sich ab, dass man Graffiti nie loswerden werden wird, außer vielleicht unter politischen Verhältnissen wie in Nordkorea.

Das ist die Bedeutung und die Funktion von Graffiti: sie sind Antworten in einem unmöglichen Diskurs, der trotzdem stattfindet – wenn sie denn funktionieren, diese Einschränkung ist sicher notwendig. Was es dann im besten Fall zu sehen gibt, sind ironische Umdeutungen und symbolische Aneignungen, Normverletzungen und Bedeutungsumkehrungen. Da es viel dilettantische Graffiti gibt, die eben nicht funktionieren, kann man ihre Kommerzialisierung beklagen und auch die unbestreitbare Tatsache, dass immer mehr Writer in die Galerien streben und umgekehrt immer mehr Künstler in den öffentlichen Raum. Und dazwischen, das ist schon klar, gibt es ganz viel pubertären Mist. Aber nur den großen „Konsensbrei“ zu sehen greift zu kurz. Jedes noch so schlechte Graffiti zeugt von Aneignung, von Normverletzung und von einer Hinterfragung öffentlicher Herrschaftssymbole oder der Widerrede zu Prozessen der „Macht“. Dass dies den dekorativen Street-Artists in der Frankfurter Schirn und anderen Kunsthallen natürlich nicht gelingen kann, dürfte klar sein.

Voilà, ist damit denn nicht das Problem benannt, mit dem andere Kulturen (beispielsweise in Brasilien) wohl viel entspannter umgehen? In Deutschland, wo man jetzt offenbar meint, Graffiti stimme ein in das „Geschrei“ der urbanen Zeichen – der Zeichen des Konsums bzw. der Wirtschaft, der Ideologie und der Politik – verkrampft sich wieder mal einiges. Hauptsache wir bestätigen unseren Kulturpessimismus und retten die protestantische Grundstimmung mit einem erneuerten Bilderverbot?

Graffiti, die lustig oder auch grimmig Objekte auf der Zeichenebene transformieren, schaffen jene Sichtbarkeit, die different codiert ist zum Mainstream der urbanen Öffentlichkeit, als unmöglicher Dialog eben mit der Hegemonie von Marken- und Werbebotschaften. Sie zeichnen damit, und das ist meine Überzeugung, immer wieder aufs Neue eine Spur sozialer Intelligenz nach, die unter der alles beherrschenden Warenästhetik2) verschüttet wurde. Und zwar egal in welcher Form, denn kein intellektueller Überbau kann mit Bestimmtheit aussagen, was funktioniert und was nicht. Gezeigt wird es ja immer wieder mal in Gebrauchs- und Anwendungsformen und in den vielfältigen Übersetzungen und Verzerrungen von Botschaften. Wenn Graffiti jetzt tatsächlich tot ist, dann sind ganz schön viele Zombies unterwegs.


  1. Michel Serres: Das eigentliche Übel. Verschmutzen, um sich anzueignen? Berlin 2009 

  2. zu finden in überall identischen Formaten wie Shopping Malls, Flagship Stores, Systemgastronomie, etc. – das ist der Einheitsbrei, unter dem urbanes Leben langsam zu ersticken droht. Als Hinweis auf die Gegenbewegung mittels reduktiver Konzepte in Kunst und Design vgl. Bernd Sommer/ Harald Welzer: Transformationsdesign, München 2014 

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