The Death of Graffiti

Und es lebt doch!

Paul Schweizer, Tobias Morawski

Vorweg: Wir freuen uns sehr über „The Death of Graffiti“. Die in achtzehn Thesen formulierten Beobachtungen teilen wir im Wesentlichen und sind der Meinung, dass die Etablierung einer selbstkritischen Diskussionskultur unter Graffitist_innen längst überfällig ist. Schön wäre es, wenn Initiativen wie dieses Buchprojekt dazu beitragen, dass der prophezeite „Tod“ erst gar nicht eintritt.

In diesem Beitrag wollen wir unsere Gedanken zum Selbstverständnis der Bewegung und der Utopie „möglicher“ Graffitis anreißen. Diese Überlegungen sind nicht allein unsere Erfindungen, die wir den Leser_innen aufzwingen wollen, sondern Vorschläge, Möglichkeiten und Sichtweisen, die, wie einzelne Beispiele zeigen, bereits praktiziert werden. Wir plädieren also dafür die progressiven Potenziale des Totgesagten durch genaues Hinschauen abseits der dominanten Erzählung zu entdecken – und nutzbar zu machen!

Graffiti ist mehr als Writing

„Graffiti kommt aus dem New York der 1970er Jahre...“ – Sowohl innerhalb der Szene als auch im Wissenschafts- und Mediendiskurs wird dieser Gründungsmythos gepflegt. Er suggeriert nicht nur eine eindeutige Herkunft, sondern liefert gleich eine Reihe von Funktionsweisen, Regeln und Interpretationen mit. Belegt wird diese Erzählung durch einige wenige Quellen aus der Frühzeit der New Yorker Writing-Kultur. So wertvoll die Arbeiten, besonders Martha Coopers und Henry Chalfants, als Zeitdokumente auch sein mögen, so ist doch zu vermuten, dass ihre alleinige Beschlagnahme durch die Graffiti-Geschichtsschreibung der Vielschichtigkeit des Phänomens kaum gerecht werden kann. New-York-Nostalgie hin oder her, Graffiti war immer ein heterogenes, differentes Ausdrucksmittel und Graffitist_innen waren nie nur arm, männlich, jung und afroamerikanisch.

Die Bemalung von Oberflächen des alltäglichen menschlichen Lebensumfelds ist so alt wie die Menschheit selbst. Von Einkratzungen in den Wänden Pompejis oder Wandbemalungen im präkolumbianischen Mittel- und Südamerika, bis hin zu Parolengraffiti der Studierendenproteste im Mai 1968 sowie U-Bahn Graffiti im New York der 1970er Jahre. Als Graffitist_innen können wir uns auf jede dieser Interventionen berufen. Wir übernehmen einige ihrer Elemente, wandeln sie ab, kritisieren oder verwerfen sie.

Wir schlagen deshalb vor, Graffiti nicht als eine in sich geschlossene Subkultur mit nur einem Ursprung zu verstehen, sondern als kontingente, hybride, unvollendete Ausdrucksform. Sie steht im Kontext der unerschöpflichen Vielfalt visueller Interventionen im alltäglichen menschlichen Lebensumfeld, die die Geschichte hervorgebracht hat.1

Graffiti als Teil sozialer Kämpfe

Motivationen von Graffitist_innen sind vielfältig. Fest steht jedoch: Seitdem es Städte gibt, werden Graffiti und verwandte Praktiken auch genutzt, um ungehörte Meinungen in die Öffentlichkeit zu tragen oder Opposition gegen Missstände und herrschende Machtverhältnisse sichtbar zu machen – sei es im kommunistischen Widerstand zur NS-Zeit, in den Mietprotesten in der Weimarer Republik, in der Studierendenbewegung um 1968 oder im Widerstand gegen die Pinochet-Diktatur in Chile...2 Schon während der spanischen Revolution wurden Züge bemalt, um die Ideen der Revolte durchs Land fahren zu lassen. Aktuell illustriert Urban Art z.B. in Ägypten oder in Griechenland den Widerstand gegen Diktatur und Krisenpolitik. In all den genannten Beispielen entwickelten sich in dem jeweiligen spezifischen Kontext – verfügbare technische Mittel, Kenntnisse, im kulturellen Kontext vorhandene Stilmittel, Druck durch Repression usw. – angepasste ästhetische und technische Mittel.

Auch der Anfang der Writing-Kultur in New York entspringt einer spezifischen historischen Situation: marginalisierte Jugendliche in den von der öffentlichen Hand vernachlässigten Randbezirken einer kapitalistischen Großstadt fanden im Writing eine erfolgreiche Möglichkeit sich abseits des ihnen verschlossenen Konsum-Spektakels zu amüsieren und konnten sich damit in der Mehrheitsgesellschaft Gehör verschaffen. Dazu brauchten sie keine explizit politischen Forderungen. Namen, die auf Zügen durch die Stadt fuhren, waren in diesem Kontext Botschaft genug – die auf die Hand folgende empörte Reaktion durch konservative Medien und Politik gibt ihnen Recht!

Zum Writing heute

Graffiti erobert Orte zurück. Aber von wem und für wen wird hier erobert?

In einer Gesellschaft, in der uns vermittelt wird, wir seien nur passive Bewohner_innen, Arbeitnehmer_innen, Konsument_innen und nicht unterschiedliche Individuen, die sich und ihre Umwelt erschaffen,3 ist es zunächst vollkommen legitim laut zu schreien: „Ich!“.

Graffiti stellt die Forderung nach freiem Zugang zu Nutzung und Gestaltung des öffentlichen Raums nicht nur, sondern setzt diese performativ auch gleich um (zumindest symbolisch). Hier sehen wir das Potenzial von Graffiti als Informations- und Kommunikationsmedium: Es kann theoretisch von jedem/r genutzt werden, unabhängig von Klasse, Alter, Herkunft und Geschlecht.

Graffiti öffnet alternative Kommunikationskanäle. Es kann Stimmen stark machen, die sonst nicht sprechen dürfen oder nicht gehört werden, es kann unterschiedliche (und sonst marginalisierte) Lebensrealitäten repräsentieren und bietet damit die Möglichkeit, einen ernsthaften gesellschaftlichen Austausch zu befördern.

Graffiti als solches ändert vielleicht nichts an gesellschaftlichen Strukturen und Eigentumsverhältnissen, aber es zeigt Risse, Hohlräume und Schwachstellen auf, in denen sich Elemente „anderer“ Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens entwickeln oder entwickeln könnten. Wenn Graffiti selbst nicht die Verhältnisse ändert, so ändert (und politisiert) es doch in jedem Fall die Subjekte, die es machen. Durch die Praxis „Graffiti“ werden wir uns fast zwangsläufig bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse bewusst und praktizieren (bewusst oder unbewusst) bereits Möglichkeiten diese zu verändern (siehe Jung in diesem Band).

„Mögliche“ Graffitis der Zukunft

Wir nehmen nicht, wir vergesellschaften.

Oberflächen im städtischen Raum zu gestalten, den wir alltäglich (er-)leben, ist legitime Aneignung, zu der wir alle berechtigt sind. Doch der Vorwurf bleibt: Graffiti ist doch nur ein kläglicher Versuch Privateigentum vorzutäuschen, wenn es sich Flächen aneignet und diese dann als langfristiges, unantastbares, rechtmäßiges (entsprechend dem aus New York überlieferten Szenerecht) (visuelles) „Eigentum“ behandelt. Die vollständige Aufteilung des öffentlichen Raums in dauerhaft unantastbare Eigentümer würden diesem eben jenen Reiz rauben, der uns immer wieder dazu anspornt in ihm zu intervenieren.

Wir schlagen also vor, die Aneignung durch Graffiti als (vorübergehende) Nutzung zu verstehen. Sie muss sich dem Unvorhersehbaren, Dynamischen des öffentlichen Raums ausliefern, um sich nicht selbst der eigenen Grundlage zu berauben.

Das Anbringen von Graffiti mit diesem Verständnis respektiert andere Nutzungen, durch Graffiti oder Nicht-Graffiti. Die implizite Aussage eines jeden Graffiti wäre dann nicht mehr „Verpiss dich, das ist meine Wand!“, sondern „Ich hab hier gemalt, mach was daneben!“. Natürlich würde dieses Verständnis auch die Legitimität des Übermalens berühren. Ein im Gemeinschaftsraum angebrachtes Graffiti setzt sich also grundsätzlich der Intervention durch andere Graffitist_innen und Nicht-Graffitist_innen aus (grau-streichende Hausmeister_innen, kritzelnde Kinder, andere Graffitis, usw.). Wer einen Anspruch auf Unantastbarkeit hat, sollte auf Leinwand malen und diese im Keller verstecken, um ruhig schlafen zu können.

Respekt für andere Interventionen, die uns überraschen, erfreuen oder provozieren, sollten wir uns gönnen, unabhängig davon, ob diese uns ästhetisch ansprechen oder nicht. Kommerzielle Werbung sowie menschenverachtende Inhalte wollen wir davon mal ausnehmen.

Offene Zeichen statt Marketing

Wenn wir Flächen, auf denen gemalt wird, zu Flächen der gemeinschaftlichen Nutzung erklären, warum sollten wir nicht auch die Inhalte des Gemalten zu Gemeineigentum erklären, sobald diese im öffentlichen Raum angebracht werden? Das heißt, dass jeder Stil, jede Technik, jedes Zeichen und auch jeder Name von allen Menschen (Graffitist_innen oder nicht) angeeignet, nachgeahmt oder verändert werden kann. Anstelle von selbstreferentiellem Ego-Marketing könnten so gemeinschaftlich offene Zeichen und Symbole geschaffen werden. Graffiti-Namen werden sozusagen unter Creative Commons lizenziert.

Denn macht es Sinn, den Menschen, die dort ungebeten mit Schriftzügen/Zeichen konfrontiert werden, das Recht der Nutzung dieser Zeichen zu verwehren? Das in die Öffentlichkeit getragene Graffiti hat für den/die Anbringende*n eine Bedeutung, aber indem es im Alltag anderer Menschen auftaucht, nimmt es auch für diese Bedeutungen an. Die Verwendung eines Konzepts von geistigem Eigentum wirkt in diesem Zusammenhang fehl am Platz. Tatsächlich gab es immer schon Zeichen, die von mehr oder weniger großen Gruppen genutzt wurden und ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl ausdrückten. Im städtischen Raum sind vor allem das „A“ im Kreis, das Kürzel „ACAB“ oder auch „2Pac“ weit verbreitet. Im virtuellen Raum haben sie in Form von Hashtags längst eine neue Relevanz bekommen (siehe „Jesuischarlie“). Wie wäre es, den Weg zum Hashtag-Graffiti zu ebnen?

In immer mehr Städten werden als Alternative zur Namensverbreitung farbige Regenbögen von den Dachkanten gegossen. Auch diese Form von Graffiti hat einen hohen Wiedererkennungswert, verweigert sich aber der Zuschreibung zu einem/r Autor_in. Die Anleitung, wie die Bilder gemalt werden können, haben Aktivist_innen passenderweise frei im Netz veröffentlicht.4

Es gibt aber auch Symbole im urbanen Raum, die explizit offen für die Benutzung zu bestimmten Zwecken sind. Beispielsweise wurde das Zeichen „Pixo Manifesto Escrito“ von anonymen Akteur_innen in São Paulo entwickelt, um politische Forderungen auf Wänden anzubringen. In anonym veröffentlichten Aussagen erklären die Urheber_innen, dieses Zeichen solle von allen Personen genutzt werden, die sich mit den Aktionen, die bis dahin unter diesem Zeichen durchgeführt wurden, verbunden fühlen und ähnliche politische Aktionen durchführen wollen. Wichtig sei nur, dass das Zeichen nie in Verbindung mit Einzel- oder Crewnamen verwendet werde. Auch in Europa gab es inzwischen Graffiti-Aktionen gegen Polizeigewalt, die mit Pixo Manifesto Escrito gekennzeichnet wurden, z.B. an einer Wand gegenüber der brasilianischen Botschaft in Berlin.

Ich-Graffiti – Wir-Graffiti

Und trotzdem bleibt die Sorge: „Reproduziert Graffiti nicht doch nur die Leistungs- und Konkurrenzlogik, die uns auch in Schule, Job und Fußballverein5 schon auf die Nerven geht?“. Wir denken, dass vor allem ein solidarisches – spielerisch wettstreitendes und nicht konkurrierendes – Verhältnis zwischen Graffitist_innen eine ständige inhaltliche, ästhetische und aktionistische Weiterentwicklung verwirklichen kann.

In den letzten Jahren haben einzelne Gruppen gezeigt, wie die Grenzen des Möglichen durch Kooperation und Organisation gepusht werden können. Zusammenschlüsse zu großen Crews machen aus einfachen S-Bahn-Stationen Spots, an denen in wenigen Minuten Wholetrains gemalt werden. Was aber der Zusammenschluss zu einer Bewegung bewirken kann, an der jede*r teilnehmen kann, der/die die gleichen Inhalte teilt, zeigten die Wochen nach dem Tod von OZ in Hamburg, als fast sämtliche Bahnen der Stadt vor Farbe tropften.6

Und warum sollte Graffiti nur Graffitist_innen ansprechen und nur mit Graffitist_innen kooperieren?7 Die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen, die im öffentlichen Raum intervenieren, kann für beide Seiten eine Bereicherung sein und neue Flächen, Techniken, Ausdrucksformen usw. eröffnen.

Inhaltlich kann Graffiti gut an andere gesellschaftliche Kämpfe anknüpfen und mit Protestbewegungen zusammenarbeiten – seien es die derzeitigen städtischen Protestbewegungen gegen Privatisierung und Verdrängung, der Kampf von Geflüchteten um elementare Rechte oder auch die Netzbewegung, deren Aktivist_innen für das Internet als freien Kommunikationsraum streiten.

Vielerorts sind solche Bündnisse bereits Praxis. Wenn z.B. in italienischen Städten Häuser besetzt werden, ist es üblich, dass anschließend Graffitist_innen eingeladen werden, diese zu gestalten. Graffiti-Crews wie die „Volxwriterz“ aus Mailand verstehen sich vor allem als visueller Lautsprecher politischer Forderungen und greifen dort massiv ins Stadtbild ein.

In Berlin brachte die drohende Privatisierung des Spreeufers unterschiedliche betroffene Interessengruppen zusammen, die sich im Rahmen der „Mediaspree versenken“-Kampagne gemeinsam zur Wehr setzten. Nicht nur entlang des Ufers sind großflächige Protestbilder entstanden, u.a. stellten Clubs dafür ihre Außenflächen zur Verfügung.

Auch Interventionen einzelner Künstler_innen können durchaus solche Brücken schlagen. Als der rassistische Mob in Freital gegen eine Geflüchtetenunterkunft randalierte, zeigte eine nächtliche Adbusting-Aktion an den örtlichen Haltestellen, dass antifaschistisches Engagement auch hier möglich ist. Bekanntheit erlangte ebenfalls ein gut sichtbarer Schriftzug an einer Hauswand in Berlin-Neukölln mit einer Anleitung, was zu tun ist, wenn ein Mieterhöhungsschreiben ins Haus kommt. Ein gutes Beispiel dafür, wie Graffiti wertvolle Informationen transportieren kann, die betroffene Menschen anders vielleicht nicht erreicht.

Wir haben hier nur ein paar wenige Beispiele genannt, die uns in den letzten Jahren motiviert haben Graffiti nicht als ein starres, rostiges Ding zu sehen, das vor 45 Jahren aus der New Yorker Subway gekrochen kam und sich seitdem nicht verändert hat. Vielmehr war Graffiti immer viele Graffitis, in denen jede Menge progressives Potential steckt. Aus bereits gemachten Erfahrungen lernend, freuen wir uns auf zukünftige Graffitis, die dieses Potential ausschöpfen und die Grenzen des Möglichen weiter pushen.


  1. Ein alter, bärtiger Typ hat mal gesagt, dass „die Umstände ebenso sehr die Menschen wie die Menschen die Umstände machen.“ Als Teil eben dieses Spiels aus „Gemachtes vorfinden“ und „daraus Neues machen“ verstehen wir auch Graffiti. 

  2. Die Liste der unterschiedlichen Kontexte, in denen Protestgraffiti auf die eine oder andere Art angewandt wurden, ist lang. Sie aufzuarbeiten wäre ein eigenes Buchprojekt wert. 

  3. Das hat zumindest der alte Typ immer wieder behauptet und uns gefällt die Vorstellung, dass wir es sind, die uns selbst und unsere Umwelt erschaffen. 

  4. www.reclaimyourcity.net/content/tutorial-muraliquid-rainbow-graffiti 

  5. Einmal angenommen, das wären tatsächlich die Lebensbereiche, aus denen wir durch das Graffiti-Machen zu fliehen versuchen. 

  6. Wie wichtig Vernetzung für Graffitist_innen besonders in juristischen Angelegenheiten ist und welche Schritte in diese Richtung bereits gemacht wurden, bespricht Matze Jungs Beitrag in diesem Band. 

  7. Mit seinem Crew-Kollegen hat unser bärtiger alter Freund über eine Gesellschaft fantasiert, in welcher es keine Graffitist_innen gibt, sondern höchstens Menschen, die unter anderem auch Graffiti machen. 

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