The Death of Graffiti

Weshalb der Mensch Graffiti macht

Dmity Ilko

Vorwort

Alles, was ich im Folgenden zum Ausdruck bringe, ist meine Sichtweise und Einstellung gegenüber dem Leben und Graffiti. Ich werde versuchen, auf alle Behauptungen des Textes und die sich daraus für mich ergebenden Fragen einzugehen, auch wenn nicht auf jede explizit. Um auf die fundamentale Kritik des Textes „TDOG“ zu reagieren, muss aus meiner Sicht eine ebenso fundamentale Frage beantwortet werden: Weshalb der Mensch Graffiti macht!

1. Akt

Der Mensch ist ein kommunikatives und schöpferisches Wesen, welches nach Nähe und Anerkennung strebt. Die Kommunikation des Menschen kann verbal als auch, im Fall von Graffiti, nonverbal verlaufen. Alles beeinflusst uns und folglich beeinflussen wir alles mit allem, was wir tun. Wir tun es, indem wir denken, das Gedachte mitteilen, uns verhalten, bewegen, kleiden. Im Allgemeinen mit Tätigkeiten, die wir ausüben. Alles, was wir tun, ist eine Form des Ausdrucks – wir kommunizieren. Zudem spezialisiert sich jeder Mensch, sei es bewusst oder unbewusst, auf Tätigkeiten (Ausdrucksformen), die ihm Spaß machen, die er gut kann, oder auf solche, die seine Lebenssituation erfordert. Weshalb vor allem Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Graffiti als Ausdrucksform wählen, ist demzufolge leicht nachvollziehbar.

Graffiti ist illegal. Kinder und Jugendliche entwickeln bei Verboten o.ä. eine Abwehrreaktion und verhalten sich oft und gern konträr zu ihnen.

Graffiti basiert auf einer Tätigkeit, mit der Kinder und Jugendliche vertraut sind: dem Malen. Das Malen ist eine sehr freie Form des Ausdrucks, die zudem spaßig und Erfolg bringend sein kann.

Graffiti ist rätselhaft. Das Entschlüsseln der Buchstaben und deren Bedeutung sowie der Technik, mit der etwas angebracht wurde, und der Beweggründe des Sprühers ist reizvoll.

Jedes Bild und jedes Tag steht als codierter Baustein für die Persönlichkeit des Sprühers. Interpretiert man, weshalb der Graffitisprüher an diesem Ort war und genau an der Stelle zu dieser Zeit das Bild oder Tag mit genau den Materialien gemalt hat, wie er das vermutlich gemacht hat und was das äußere Erscheinungsbild darstellt, kann man daraus unterschiedliche Aspekte und Facetten des Sprühers deuten. Diese ergeben in der Gesamtheit der Bilder und Tags eine Vorstellung von beispielsweise den Gründen, weshalb die Person Graffiti sprüht, von seiner Herkunft, Erziehung, körperlichen Ausstattung, seinem psychischen Befinden als auch seinen Fähigkeiten, seiner Intelligenz, seinen Interessen und seinem gesellschaftlichen Standpunkt.

2. Akt

Kinder und Jugendliche können aus verschiedenen Gründen nicht konkret nachfühlen, was sie dem Geschädigten antun. Es kann zum einen daran liegen, dass ihnen noch nichts dergleichen widerfahren ist oder es nicht prägend war. Zum anderen kann es sein, dass die Person zwar etwas besitzt, das sie durch eigene Leistung verdient und verloren hat, und dies hat sie geprägt. Jedoch lässt sich diese Erfahrung nicht auf den Besitz im öffentlichen Raum übertragen, da dieser aus der Sicht eines Kindes oder Jugendlichen niemand Konkretem zugeordnet werden kann. Oder, die Person hat ein gestörtes Verhältnis zum Besitz.

Die meisten Erwachsenen, die Graffiti sprühen, haben als Kinder oder Jugendliche angefangen. Dementsprechend hat sich bei ihnen ein Automatismus entwickelt und eine ästhetische Vorstellung manifestiert. Graffiti wird jetzt von ihnen, grundsätzlich als etwas Positives kategorisiert.

3. Akt

Graffiti ist strafrechtlich gesehen ein widerrechtliches Delikt. Im Ursprung jedoch eine autonome Malerei oder Kritzelei im öffentlichen Raum. Sie ist vergleichbar mit der Höhlenmalerei, bei der ebenso ein Mensch im öffentlichen Raum durch eine Malerei oder sein Handnegativ etwas mitteilt. Der autonome Ausdruck im öffentlichen Raum ist der Kern beider Malereien und somit ist Graffiti die zeitgenössische Höhlenmalerei. Sie liegt dem kommunikativen Wesen des Menschen nahe. Der Unterschied beider liegt in der gesellschaftlichen Interpretation. Ich will damit sagen, dass das Malen welches positiv assoziiert wird in Kombination mit dem Verbot dessen, zu einer Diskrepanz resultiert.

Durch diese Diskrepanz wird vorhandenes Wissen über Recht und Unrecht verändert und neu strukturiert. Ich behaupte, es entsteht eine neue Handlungspraxis, in der der Mensch Regeln zwar wahrnimmt, jedoch hinterfragt und entscheidet, ob es nötig ist, diese einzuhalten.

Diese Umstrukturierung wirkt sich auf das gesamte kognitive Fundament als auch auf das ästhetische Verständnis des Menschen aus.

Ich fasse zusammen: Aus der Diskrepanz zwischen Spaß am Malen und dessen Verbot sowie der nicht ausreichenden Erfahrung als Geschädigter im Zusammenhang mit Eigentum entsteht ein Grund, weshalb Menschen Graffiti machen. Ich möchte damit nicht sagen, dass dies die absolute Erklärung ist, und auf keinen Fall, dass diese Ursachen bei jedem Kind dazu führen, dass es auf der Straße malt. Ich glaube jedoch, dass diese Faktoren wesentlich dafür sein können, dass Menschen Graffiti machen.

Bezug zum Text „The Death of Graffiti“ (TDOG)

Im Folgenden möchte ich mich zum Text äußern. Ich stelle das Gesagte nicht grundsätzlich in Frage. Einige Dinge kann man jedoch aus noch mehr als den gegebenen Perspektiven betrachten.

1.

In den ersten Absätzen des Textes wird behauptet, Graffitisprüher seien heuchlerisch. Sie laufen im Gleichschritt mit der übrigen Gesellschaft, anstatt in eine andere Richtung (vgl. Absatz 2, TDOG). Diese Annahme resultiert wahrscheinlich daraus, dass die Motivationen der Sprüher bzw. Aussagen wie, „Ich mache Graffiti, weil ich etwas verändern will“, fehlgedeutet werden. Ich sehe das so: Jedes Tag und jedes Bild ist ein Zeichen des Hinwegsetzens über eine Grenze. Es steht metaphorisch für das Hinterfragen und weist auf die Diskrepanz zwischen etwas als positiv Wahrgenommenem und dessen Verbot hin. Wie ich zuvor erklärt habe, beeinflusst die diskrepante Erfahrung die kognitive Struktur. Das Hinterfragen ist an sich die größte Leistung des Graffitisprühers.

Wenn man also die Aussage „Ich mache Graffiti, weil ich etwas verändern will“ im politischen oder rechtlichen Sinne wörtlich nimmt und Graffiti als Lösung interpretiert, so ist das falsch. Ich gebe zu bedenken, dass eine Lösung für ein Problem nur auf der Ebene des Problems stattfinden kann. Außerdem gab und gibt es keine Kunst, die rein praktisch außerhalb des Kunstbegriffes etwas verändert hat oder etwas verändern können wird. Kunst kann lediglich Gegebenheiten aufzeigen, zum Nachdenken oder Hinterfragen anregen oder zum Agieren motivieren. Da Graffiti meiner Meinung nach auf der künstlerischen Ebene stattfindet, kann es maximal künstlerisch, ästhetisch oder theoretisch etwas verändern. Der Sprüher sendet über das Bild oder Tag einen visuellen Reiz aus, welcher auf eine Aussage, ein Gefühl, eine Einstellung oder einen Appell bewusst oder unbewusst verweist.

Ich möchte dazu noch sagen, dass es aufgrund der Anonymität der Sprüher nicht nachvollziehbar ist, inwiefern jeder einzelne sich auch außerhalb von Graffiti in Bezug auf den „Gleichschritt“ der Gesellschaft verhält.

2.

Zur Unterstützung der ersten Behauptung wird argumentiert, dass Graffitisprüher für sich und ihresgleichen malen (vgl. Absatz 2, TDOG).

Ich behaupte, ein Bild oder Tag steht immer für den Erschaffer als auch für sich selbst. Ab dem Moment der Vollendung des Werkes beginnt sein eigenes Dasein. Die Situation des öffentlichen Raumes und die Tatsache, dass Graffiti keine Regeln hat, eröffnet jedem rein praktisch alle und dieselben Möglichkeiten, über das Werk zu bestimmen: Der Werdegang des Bildes ist von der Außenwelt abhängig. Das Bild beeinflusst seine Umwelt entsprechend den äußerlichen Umständen wie Wetter, Umbaumaßnahmen oder Interpretation des Betrachters. Diese liegen nicht im kalkulierbaren Bereich des Sprühers. Das Argument, Graffitisprüher malen für sich und ihresgleichen, stimmt teilweise. Denn wie gerade ausgeführt, teilt das vollendete Werk neben der Information des Graffitisprühers eine eigene Information mit. Somit gilt jeder als Adressat.

Gleichzeitig malt der Sprüher mit der Intention, sich auf einer Ebene auszudrücken, die er als ästhetisch erachtet. Dies bedeutet nicht zwangsweise, dass er davon ausgeht, dass nur Graffitisprüher diese ästhetisch finden. Zu interpretieren, für wen der Sprüher sprüht, liegt bei jedem Einzelnen. Abschließend muss ich sagen, dass alle alles, was sie tun, für sich und eine bestimmte Adressatengruppe tun. Im Graffiti kann sich jeder zum Adressierten machen.

3.

Im Verlauf der Kritik wird davon gesprochen, dass Graffiti nur zu einem begrenzten Teil eine Ausdrucksform sei und der Name dem Sprüher vielmehr als Vorwand zum Aktionismus diene. „Ihnen ist es scheinbar völlig gleichgültig, was und wie sie es malen.“ (vgl. Absatz 5-7, TDOG)

Aus meiner Sicht ist es dem Sprüher nicht egal, was und wie er etwas malt. Ich bin davon überzeugt, dass einem Großteil der Graffitisprüher das, was er sprüht, gefällt. Tatsächlich sind wenige talentiert oder innovativ. Das führt dazu, dass das Stadtbild zum Großteil mit Graffiti besprüht ist, welches nicht zur Umgebung passend und gekonnt platziert oder ausgeführt ist. Es steht dann in einer Disharmonie zur ursprünglichen Atmosphäre.

Der Grund, weshalb man denken könnte, Graffitisprüher gäben sich keine Mühe, liegt in einer ganz einfachen Erklärung: Einerseits wird Graffiti im Gegensatz zu Tanz, Musik oder Theater zwangsläufig visuell festgehalten. Und andererseits findet es im öffentlichen Raum statt. Durch die Illegalität von Graffiti entsteht ein Zeitdruck, welcher sich auf das Endergebnis auswirkt. Und wie überall ist es so, dass nur ein kleiner Teil gut in etwas ist. Im Graffiti jedoch wird alles, egal ob hübsch oder eben nicht hübsch, wahrgenommen und zusammengefasst.

Die Verbreitung des Namens steht unangefochten im Vordergrund, das stimmt. Sie gehört seit Anbeginn zu den Merkmalen von Graffiti.

Graffiti ist selbstreferentiell, das stimmt auch. Denn die Buchstaben bilden einen Namen. Betrachtet man den Buchstaben jedoch als eine Art Grundvoraussetzung, fällt einem auf, dass das Wesentliche das ist, was man mit dem Buchstaben anstellt. Im Mittelpunkt steht die Modifizierung des Buchstabens. Der Name, den man wählt, ist ein Verweis auf den Urheber, weil dieser im öffentlichen Raum letztendlich anonym ist. Der Name besteht aus Buchstaben , so ist dieser zwangsläufig der Grund zum Aktionismus. Graffiti ist, wie die meisten anderen Tätigkeiten und Ausdrucksformen auch, nicht selbstlos.

Der Ausdruck im Graffitibild oder Tag ist selbst für Graffitisprüher nicht leicht zu deuten, jedoch kann der Urheber immer etwas dazu erzählen. Sei es gar nichts, eine Verweigerung, ein sich keine Gedanken machen ist auch ein Ausdruck.

Wie ich vorhin geschildert habe, ist Graffiti Mittel zum Zweck, es fungiert für jeden als unterschiedliches Werkzeug und hat immer eine eigene Funktion. Natürlich wird gemalt, um sich zu profilieren oder die Frustration auf anderen Ebenen des Lebens abzubauen. Aber genau dazu ist eine Ausdrucksform da: um seine Impressionen zu verarbeiten.

4.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, Graffiti habe sich kaum verändert. Trotz der Vielzahl von Graffitisprühern und deren weltweiter Verbreitung sowie der Regellosigkeit im Graffiti ließen sich die Styles auf ein kleines Repertoire zusammenzählen (vgl. Absatz 3, TDOG).

Als erstes mache ich darauf aufmerksam, dass Graffiti Kunst ist und somit Neuerungen zum Großteil von Talent, Übung und Zufall abhängig sind. Es gilt zudem die Grundbedingung, dass eine Veränderung auf der Basis des Buchstaben passieren muss, um als Stylegraffiti kategorisiert zu werden.

Ohnehin erfordert es ein mit der Materie vertrautes Auge, Kenntnis über den Aufbau des Buchstabens und schon vorhandene Styles, um eine Neuerung festzustellen.

Zudem ist es so, dass sehr viele kleine Neuerungen im Einzelnen auftauchen, wobei nur selten ein komplett neuer Style oder eine neue Stylerichtung daraus entwickelt wird. Die meisten Graffitisprüher greifen einfacherweise auf Dagewesenes zurück, da sie entweder nicht kreativ genug sind, eigene Styles zu entwickeln, oder bestimmte Styles ihre Anforderung an Ästhetik und/oder Nutzen erfüllen. Oberflächlich betrachtet, scheint zwar keine wirklich krasse Entwicklung stattgefunden zu haben, jedoch ist styletechnisch enorm viel passiert. Jedes Jahrzehnt hat seine eigene prägende Note, basierend auf (Style-)Form des Buchstabens, Farbkombination, Technik, Auswahl der Stellen und Nutzung von Materialien. Zum Style eines Bildes gehören nämlich ebenfalls die eben aufgelisteten Aspekte. Um es nochmal ganz eindeutig darzustellen und zu beweisen, dass eine Entwicklung stattgefunden hat, sollst du als Leser einfach Bilder jedes Jahrzehnts ansehen und miteinander vergleichen.

Die Behauptung, Stylegraffiti habe sich kaum verändert, stimmt einfach nicht. Im Verhältnis dazu stimmt es aber, dass es enorm viele Sprüher und keine Regeln gibt. Wenige Stylerichtungen existieren, die benannt und ausreichend bekannt sind.

Ich möchte noch etwas zum Internet sagen. Das Internet beeinflusst unsere Gesellschaft wie kein anderes Medium. Es ist von Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit geprägt. Diese Eigenschaften färben meiner Ansicht nach zurzeit sehr stark auf unsere Gesellschaft ab. Der Nutzen und Grund von Tätigkeiten, die wir ausüben, wird von dem Trend, sich zu präsentieren, negativ beeinflusst. Es scheint, als übe man die Tätigkeit nicht mehr für sich aus, sondern für sein Abbild in der Öffentlichkeit. Genau dieser Punkt zeigt mir einerseits, dass ein Teil von Graffiti ebenfalls von dieser Oberflächlichkeit betroffen ist. Und andererseits genau das Gegenteil. Weil ich viele Künstler kenne, die Graffiti aus ästhetischen Ambitionen, Überzeugung, Rebellion oder Selbstverwirklichung machen.

In meinen Augen ist Graffiti eine der wenigen Sachen, die noch real ist.

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