The Death of Graffiti

Probleme des Schreibens über Graffiti

Lukas Fuchsgruber

Die Geschichte von Graffiti schert aus der Kunstgeschichte aus. Kunstgeschichte produziert Überzeugungskraft und damit Meinungswerte über Kunst. Graffiti hingegen operieren in einer konfrontativen Selbstermächtigung und koppeln sich von Vermittlungs- und Finanzialisierungsökonomien ab. Wird sich auf die Ästhetik von Graffiti nun eingelassen, als ob sie in Kunstgeschichte zu integrieren wäre, wird dabei weniger Graffiti unrecht getan, als vielmehr Kunstgeschichte verändert. Graffiti wird nicht überschrieben, wenn darüber geschrieben wird, sondern es verhält sich wie mit den gesprühten Fußnoten die manchmal in und neben Graffitibuchstaben angebracht sind, sie legen sprachliche Zugänge in das sprachlose, das auf Namen beschränkte Bild. So wird die Kunstgeschichte gecrosst mit einer Kunst, die ihr eigentlich fremd ist, die sich ihr entzieht. Dies ermöglicht eine Erwiderung auf geläufige Figuren der Kritik an Graffiti, die entweder dem subversiven Potential von Graffiti nachtrauert, da es wie Kunst sei, oder das ästhetische Potential von Graffiti verneint, da es wie Werbung sei.

Graffiti als Kunst operiert jedoch im Modus „la pub pour la pub“ (Werbung für Werbung) statt „l'art pour l'art“ (Kunst um der Kunst Willen). Das subvertiert die Prinzipien von Werbung, die immer auf etwas anderes verweist. Graffiti hat eine sehr eigene, auch verwirrende oder verstörende ästhetische Ökonomie. Graffiti erscheint verschwenderisch und gleichzeitig hoch ökonomisiert, weil sie sich der Vermarktung verweigern und gleichzeitig eine der deutlichsten bildlichen Währungen herstellen. Diese urbane Bildwährung ist in Buchstabencodes organisiert, die sich an die Wege und Fassaden anschmiegt. Fragen die Betrachter von Kunstwerken oft nach der Botschaft, die aus dem Stil oder den Formen entschlüsselt werden kann, so ist beim Graffiti die Botschaft unverschlüsselt lesbar, in Form eines werbenden Namens. Stilistische Hinzufügungen und Verzerrung der Buchstaben sind das sich nicht entschlüsselnde, künstlerisch bleibende Element, diese farbig-bildliche Dimension kommt zum doppelte Ausdruck von Individualität in Name und Handschrift hinzu. Die Schriftzüge haben keinen klaren Adressaten, sie werden vielmehr für alle lesbar öffentlich hinterlassen, sie haben lediglich einen Absender. In diesem Rückzug der Nachricht, vom Inhalt auf den Absender, ist Graffiti allgemein verständlich, diese zugrundeliegende Logik macht seine Ästhetik allgemein greifbar.

Am Ende ist Graffiti nicht nur urban art, sondern auch economic art. Wo Hip-Hop die finanzielle Macht aufgreift und Geld und Gold als gewalttätig reinszeniert, bleibt das Silber des Graffiti industrieller Ofenrohrlack, Mittel zum Zweck statt Tauschmittel. Graffiti operiert in einer Entwendung der industriellen Produkte und in einer Aneignung einer der zugänglichsten und verbreitetsten Ästhetiken, der Ästhetik der Schrift, deren vorgesehene Abweichung in der Handschriftlichkeit es ausreizt, bis an die Grenze der Lesbarkeit. Es schafft damit einen Spagat zwischen Figuration und Abstraktion in der Ästhetisierung des Buchstaben.

Menschen bekommen bei Geburt einen Namen und lernen dann schreiben, Graffiti ist nur die extremistische Version davon: einen Namen ausdenken und überall hinschreiben. Kreativität, die nicht kanalisiert werden kann, ist aggressiv. Und da alle die Buchstaben schon kennen bevor sie Graffiti-Sprüher werden, ist die vorgegebene Buchstabenform, mit der Variation und Dekoration des Stils, die passende Form einer aggressiven Kreativität Ausdruck zu verleihen.

Während die Grundtechnik des Graffiti, das Einkratzen von Linien und das Auftragen von Farbflächen, zu den ältesten bekannten Ausdrucksformen der Menschen gehört, beschleunigt es sich mit der Individualität des Namens zum modernen Graffiti. Eine erste Zäsur sind die Namen von Reisenden auf Wänden, Fensterscheiben, Architektur und Kunstwerken in den letzten Jahrhunderten. Sie hinterließen ihren Namen dort, wo sie zum ersten und vielleicht letzten Mal hinkamen, um diese Tatsache zu verewigen und sich selbst in dauerhafte Beziehung zu diesen Orten zu setzen. Ein Erinnerungszeichen, das die Erinnerung vor Ort verfestigt. Und die außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stehende Bande, die deshalb keine offiziell erlaubten Markierungen hatte, markierte ihr Revier mit ihren Buchstaben, in Konkurrenz zu der Schilderflut der modernen Stadt. Eine zweite Zäsur setzten die hinzukommende Farbfläche und das besser kontrollierbare Zerstäuben von Farbe durch die Verbreitung der Sprühdose. Die daraus entstehenden umrandenten Buchstaben sind sehr deutlich von der Werbetechnik beeinflusst und konkurrieren mit den seit etwa hundert Jahren existierenden Leuchtbuchstaben. Auch darüber hinaus kann die Kulturindustrie des 20. Jahrhunderts als einflussreich für die Entwicklung von Graffiti gesehen werden. Das Prinzip der Marke ist mit der Werbegesellschaft verbunden. Graffiti ist ein Hybrid aus individuellem Name und kommerzieller Marke, eine persönliche Marke. Streetart hingegen, die ja in viel stärkerem Maße wie Werbung aussieht, kommt aus den Traditionen der aneignenden Kunst in Form von Collage und aus der Ästhetisierung von Rebellion im Punk. Dies beinhaltet eine stilistische Bandbreite von den Karikaturen der Generation Banksy bis zu der Bewegung, die Gesichter in Photoshop bearbeitet und als Kunstposter in eine Stadt klebt, die schon voll ist von mit Photoshop retuschierten Werbegesichtern.

Mit der nach und nach geschehenen allseitigen Verknüpfung von Graffiti mit anderen Kontexten, vom Kunstmarkt bis zur Müslipackung, ist es ein beliebig anpassbares Werkzeug geworden. Es gibt heute Graffiti im abseitigsten Zwischenraum der Stadt, welches kaum jemand sehen soll, und Graffiti auf die Kleider von Supermodels gedruckt, das mit diesen exponierten Körpern zu einer überreizten Sichtbarkeit verschmelzen soll. Beides ist elitär, doch gleichzeitig hat diese Feststellung nichts mehr mit Graffiti als Form zu tun, sondern nur noch mit seinem Kontext. Die versteckten Graffiti oder die bedruckten Kleider, beide sind fast unerreichbar. Doch in anderen Kontexten, wie dem des Straßenraums und der öffentlichen Verkehrsmittel, behält Graffiti ganz eigene Potentiale. Die Menschen sind sich ihrer Sterblichkeit und der Vergänglichkeit ihres Tuns bewusst. Im Graffiti werden dagegen scheinbar dauerhafte Spuren hinterlassen. Das Schreiben und Lesen im Stadtraum ist Kommunikation mit den Mitbewohnern. Die Stadt scheint ewig, die Worte sind flüchtig, die geschriebenen Namen bleiben. Dies ist der ernste Kern dessen, was wie elitäre Konkurrenzspiele einer Subkultur anmutet. Graffiti war und bleibt Pop-Kultur, das Kryptische der szeneinternen Codes fügt lediglich eine weitere Bedeutungsebene hinzu. Genauso wie in Malerei oder Kunstgeschichte Ausgebildete an einem Gemälde mehr sehen können oder verflucht sind zu sehen, lesen Mitglieder anderer Graffitigruppen mehr in die Kürzel hinein als interessierte Passanten. Unbestritten ist es möglich, durch die Stadt zu laufen ohne Graffiti zu sehen, aber genauso ist es möglich durch die Stadt zu laufen ohne Gesichtsausdrücke oder Architektur bewusst wahrzunehmen. Die Bildschirmgeneration tut sich, dank der mobilen Interfaces, besonders leicht damit wegzusehen. Graffiti im Feed, gefüttert durch die Buchstabenfülle des UTF-8 Codes, wird hier noch einiges Potential entfalten können.

Mit seiner sozialen Dynamik durchkreuzt Graffiti die Fassadenlogik der Städte. Zwei grundlegende Elemente des Städtischen spielen im Graffiti eine Rolle: die Straße und die Wand. Die Straße als der öffentliche Raum der Gespräche mit Fremden erfährt im Graffiti eine Zweckentfremdung, da Worte dauerhaft hinterlassen werden, für andere. Angesichts von allgemeiner Einsamkeit und Konkurrenz, nicht nur auf dem Markt der Arbeit, ist Graffiti ein Weg mit diffus bleibenden Fremden zu tun zu haben und diese in Schriftform anzusprechen. Die Architektur wird von den Menschen wohnend belebt und damit verändert, in diesem Sinne ist das Beschriften eine extreme Form des Bewohnens. Trainwriting überträgt diese Prinzipien auf die Architekturen und die Körper des Verkehrs, das zirkulierende Wort verkrustet und kristallisiert sich an Wegen und Wägen. Die Veränderung der Transportmittel machte die alte Ästhetik der aristokratischen Reisesignatur auch für weniger privilegierte Metropolenbewohner zugänglich.

Die Überschreitung der Grenze des Erlaubten verbündet sich mit der Überschreitung der Grenze der eigenen Wohnung. Ein privates Markenzeichen vermengt sich mit der kommerziellen Ordnung der Stadtoberflächen, ein Sprachvirus, ein überdreht zirkulierender Text, der sich nicht in die bestehenden Märkte eingliedert und daher von der Ordnung immer wieder ausradiert werden muss.

Somit ist Graffiti nicht einfach nur ein ästhetischer Ausfluss des Kapitalismus des 20. Jahrhunderts, sondern vielmehr eine mächtige ästhetische Verarbeitung seiner technologischen und medialen Gewaltverhältnisse und Raum- ordnungen. Es ist ein bildliches Blühen der Schrift, eine der mächtigsten Gegentendenzen zu den heutigen Bildökonomien. Gegen die knappen Wegweiser und Verführungsnachrichten der Kulturindustrie setzt Graffiti eine sanfte allseitige Überpräsenz von Nichtbotschaften, einen Text von Namen.

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