Es darf nicht Dir gehören
Wie bei wahrscheinlich vielen anderen auch nahm ich die ersten Tags unmittelbar nach Schuleintritt wahr. Ich hatte zwar schon vorher Zeichen im öffentlichen Raum aufgeschnappt und nachgemacht, aber versehentlich eher politische Symbole wie die Klassiker der 90er Jahre ausgewählt: Hakenkreuz oder das Kürzel der Schutzstaffel.
Buchstabenkombination in dem Sinne waren aber echt was Neues und nahmen daraufhin zügig den Platz von figürlichen Zeichnungen, auf dem nun zu Recht so genannten Schreibtisch, ein. Dies fiel in eine Zeit als ich mich vom Kindergarten emanzipierte und zum Teenager wurde. Parallel zu den schulischen Fortschritten kam nun auch noch der analoge Dialog auf der Straße dazu. Der Unterricht sorgte für die inhaltliche Komponente und die Straße prägte die Ästhetik des Schriftbildes, so dass kognitive Eigenschaften sich spektraler ausprägen konnten – auf eine ganz naive und unkritische Weise.
Systemkritik, politische Aufladung und Rechtfertigung, die Graffiti oft beigemessen oder auch vorgeworfen werden, waren einem damals nicht im Sinn. Ich dachte mehr so an eine geheime Art der Kommunikation. Einfach eine Sache, die prinzipiell für jeden da ist, für die man aber etwas tun muss, um sie zu begreifen und an ihr teilzuhaben: Erkämpfbare Exklusivität und Coolness durch Konspiration. Alles läuft ohne einen beabsichtigten Plan ab, wie es auch in den tatsächlichen Anfängen keinen gab. Spaß durch Limitation an Teilnehmern. Wie bei einem Spiel. Doch wer waren diese Teilnehmer? Ich hatte erst nicht begriffen, dass jeder einen Namen hat. Ich dachte, dass jeder alles macht und alle sich kennen. Der ganze Umfang von Graffiti und die Zuordnung von Pseudonymen erschloss sich mir erst später. Dass es verboten war, musste ich auch erst durch meine Eltern erfahren. Die neue Lust wurde einem gleich ein bisschen madig gemacht. Ich merkte also früh, dass nicht alle Welt auf Graffiti steht. Es verstörte mich als Kind, das diese neuen Errungenschaften lediglich mit allen kompromisslos teilen wollte.
Nachdem ich zwischenzeitlich das Interesse verloren hatte, da ich Graffiti als Grundschüler aus hauptsächlich altersbedingten Gründen nicht nachgehen konnte und sich außerdem kein Gleichgesinnter unter meinen Freunden befand, kam die Thematik – traditionell – nach dem Wechsel auf die Oberschule in der siebten Klasse erneut wieder auf. Man lernte Leute kennen, begriff mit der Zeit die Regeln und stellte dann aber auch bald fest, dass nicht zwangsläufig alle Sprüher coole Typen oder gar deine Freunde sind. Zugleich waren es erste Erfahrungen mit der Hierarchie in subversiven Strukturen. Daraus wiederum resultierten, wenn zunächst auch unbewusst, erste Versuche des Abspaltens innerhalb der Szene. A subculture within a subculture.
Die Phase des Toydaseins war vermeintlich überwunden und die Erkenntnis darüber, dass der gemeinsame Nenner ein relativ großer ist, führte im Laufe der Jugend zum ständigen Kürzen, nach dem Ausschlussverfahren. Sämtliche Betrachtungswinkel wurden andauernd durchdekliniert.
Man wusste nur, was man nicht wollte. Vorbei die Zeit in der man selbstlos und schüchtern mit irgendwelchen Patienten abhing, weil man dasselbe „Hobby“ hatte. Die Erwartungshaltung veränderte sich, was zu einem viel freieren Umgang und phasenweise wieder zu völliger sowie bewusst beschränkter Eintönigkeit führte.
Am Anfang dieser Abgrenzung standen sicherlich zunächst Debatten über rein formale Angelegenheiten. Durch die voranschreitende Einkehr stellte man aber immer rascher fest, dass es sich bei der Sache trotz gemeinsam beschrittenen Neulandes schlechthin um Utopien handelte, welche obgleich eventuell gespaltener Verhältnisse zu Erziehung und Kindheit bereits existent waren und sich rein am Beispiel von Graffiti allmählich dafür oder dagegen äußerten. Damit ist also in erster Linie das soziale Verhalten als Sprüher spannender als nur das tatsächliche Ergebnis des Sprühens. Das Letztere ist dann die Dreingabe, das vermeintlich wichtigste und ausschlaggebendste Symptom. Aber auch dieses lässt sich samt Anspruch oder eben tatsächlicher Anspruchslosigkeit, in Bezug auf den ernsthaften und schweren Graffitiapparat, auf die Person zurückführen. Nämlich auf die Person dahinter, den Selbstdarsteller, der er vielleicht gar nicht sein will, nicht mal in der Anonymität der Unterwelt, der einfach ungefragten schnellen Output braucht und ihn in den groben Statuten von Graffiti selbst entschieden ausleben kann. Oder der, der eigentlich Rockstar sein will und doch nicht den Mut dazu hat, zunächst. Es ist möglich, dass er ihn sich aber antrainieren kann, den sehnsüchtigen Wunsch, den er erstmal mit allen Voraussetzungen und Konsequenzen spüren muss, und den er, wenn auch pseudorealistisch, händeln muss.
Diese Prozesse, die auf komplett autarken Zügen beruhen und in Kombination mit der selbstaufgebrachten Legitimation und zusätzlicher Differenzierung stehen, während der ohnehin von Übermut geprägten Zeit als Jugendlicher, bringen den Anwender in die Lage abstrakte, surreale Ansichten zu generieren. Eine seltene Möglichkeit. Das kann natürlich in absolut unverstandenen, bornierten, ignoranten oder zynischen Wesenszügen oder in möglicherweise eintretenden Wahnvorstellungen enden. Die einstige Faszination für das Autodidaktische, das im stillen Kämmerlein stattfindet, birgt potentiell die Gefahr einer verzerrten Wahrnehmung des Selbstbewusstseins und des Egos. Eine Gratwanderung der Selbstreflexion. Sobald man beginnt einen gewissen Anspruch auf eine Sache zu erheben, sollte man sich fragen, wann man zuletzt etwas dazu beigetragen hat, was neben der eigenen Person auch bei weiteren Involvierten auf Anklang gestoßen ist. Wie in einer Beziehung. Loyal ist nicht der, der alles durchwinkt, sondern der, der sich traut konstruktiv zu kritisieren bevor sich die ganze Welt vermeintlich gegen einen verschwört. Die Besessenheit rechtfertigt nicht den Besitz. Es darf nicht nur dir gehören.
Die Graffiti, die mich heutzutage erfrischen, werden zweifelsohne weniger, aber intensiver, weil ich heute mehr weiß, warum ich etwas für gut befinde und tendenziell eben nicht mehr alles spannend ist, was früher schlicht und ergreifend einfach nur neu war. Dies geht gewiss aus der Erfahrung und Geschmacksfindung hervor. Die früheren Vorgaben und Auflagen haben sich verflüchtigt. Der Anachronismus hält Einzug. Die Kids von früher sind sprühende Rentner geworden, der einstige Bite zum Zitat. Die reinen Stylemöglichkeiten mögen eventuell erschöpft sein, die Kombinationen sind es nicht. Das träge Verhalten ist vielmehr der globalen Vernetzung zuzuschreiben, die wegen der erwähnten Erschöpfung aber unumgänglich war. Wenn man sich nach mehr Notwendigkeit sehnt, wird man nur eine Weile aushalten müssen bis das “Fun-Punk-Graffiti“ wieder ernsthaft und provokant gegenüber der Gesellschaft verwendendet werden kann. Liefert denn die stagnierende Homogenität nicht genug Ansporn ihr etwas entgegenzusetzen? Selbstverständlich könnte die Schlussfolgerung lauten, dass man als stummen Protest das fruchtlose Feld räumt und sich zurückzieht. Aber wem würde das etwas bringen? Dieses Unereignis? Das interessiert niemanden. Es wäre wohl das Einfachste was man machen kann. Verweigerung in allen Ehren, aber man sollte versuchen Leute für sich zu gewinnen und zu verführen. Das sollte immer der Anspruch für Veränderung sein, den auch der Pseudonymkult samt Trademark so essentiell benötigt. Der inszenierte Personenkult erlangt immer mehr Stellenwert. Der Writer ist die Message. Die unbeachtete Bewegung dahinter.
Man zeigt nicht nur einen Style, sondern anhand von Spuren, die von einem Toilettentag in einer Kneipe bis hin zu einem Train im Ausland reichen, scheint eine globalisierte Welt auf. Eine Welt, in der man sich eben auch real bewegen muss, als Darsteller und Rezipient gleichermaßen. Instagram und Pokemon Go in einem. Das gemeine Graffiti wird heutzutage einerseits greifbarer und entfernt sich von konventionellen Deutungsebenen. Andererseits wird es ein immer mehr akzeptierter und durch die Industrie garantierter Lebensentwurf, welcher natürlich nicht mit der Improvisation und gesellschaftlichen Reibung vergangener Tage vergleichbar ist. Als junger Mensch hat man keine Idee von Nachhaltigkeit und Bestandsqualität, weil man nicht weiß, dass das Leben wirklich endet. Es passieren unfassbar viele Veränderungen zusätzlich neben Graffiti, dass einem die Ernüchterung nicht in den Sinn käme. Da die Zeit der Jugend eine Zwischenphase inklusive den Entschuldigungen und Energien eines Kindes gewährt, aber gleichzeitig die Vorzüge des Erwachsenseins ohne die dazugehörigen Verpflichtungen bietet, ist es ein ambivalentes, paradoxes Geschehnis, in dem man sich für Sachen begeistert und für deren Werte einsteht, die einen vielleicht insbesondere aufgrund des Widerspruches, den man im Alltag zu verdrängen versucht, auf einmal ein Leben lang begleiten. Auch wenn es einem irgendwann langweilig erscheint, so verbindet man es doch auf ewig mit dem eigenen Sturm und Drang. Das Gefühl einer Zeit, in der man sich die Freiheit nahm, etwas mit derartigem Eifer ohne Blick auf Konsequenzen zu betreiben, bringt einen um so mehr in eine Verteidigungsposition, wenn das Thema kritisch oder bejahend aufkommt. Es ist ein Teil von einem und man wünscht sich am liebsten keine Bewertung von außen. Zu intim, zu romantisch die Beweggründe.
Gerade dann, wenn man sich im Leben verloren fühlt, stellt die alte Marotte eine vertraute Konstante dar. So kommt es, dass längst vergessene Sprüher über Nacht wieder aktiv werden, wenn sie gefeuert wurden oder die Freundin Schluss gemacht hat. Graffiti ist ein kalkuliertes Erfolgserlebnis mit der zusätzlichen Option eines Ventils, welches stets leicht zu öffnen ist. Besser man hat nebenbei noch andere Interessen oder daraus entwickelt, die Wurzeln zu anderen Ufern geschlagen haben. Dadurch hätte man seinen ganz eigenen Weg in die Gesellschaft gefunden, weil die Power von Graffiti umgewandelt werden konnte. Interdisziplinärer Austausch ist maßgeblich für erfrischenden Output. Zu krankhaftes Festhalten an der Idee und Monotonie im Alltag gehen oft miteinander einher und führen auch häufig zu derartigen Leistungen. Allerdings müssen diese nicht immer unspannend sein, wenn zum Beispiel Wiederholung zum Stilmittel wird. Für manch einen ist das sogar die einzige Konsequenz, hinter der es sich im Sumpf der inflationären Vielfalt gut verstecken lässt.
Graffiti ist ein Biotop der Selbstverwirklichung und der Selbsterhaltung. Mir hat es wahrlich eine neue Welt eröffnet und unglaubliche Chancen ermöglicht. Ich habe über dieses Datingportal die unterschiedlichsten Menschen kennengelernt, von denen ich niemals gedacht hätte etwas mit ihnen gemein zu haben. Allein über die Herangehensweise kann man so viel auf der Basis dieser gemeinsamen Konstante ablesen und vergleichen. Diese Portal war den sozialen Medien 50 Jahre voraus.
Ich muss zugeben, dass Graffiti mich vor Schlimmerem bewahrt hat, weil es, beziehungsweise die Personen dahinter, mich speziell herausgefordert hat, so dass mein Ego so sehr getriggert wurde und ich die Herausforderung annehmen musste. Ich löste mich sukzessive aus einer paranoiden Starre. Somit hat es einen Impuls zur Selbstidentifizierung geliefert ohne dass ich mich allein durch Graffiti identifiziere.
Nur der Blick dafür verschwindet halt nicht mehr. Das ist Fluch und Segen zu gleich. Es ist viel Arbeit, wieder unvoreingenommen auf Situationen zuzugehen. Und im schlimmsten Fall, weiß man nicht, ob es künstliche Unvoreingenommenheit ist oder einfach das Gegenteil von dem, was man als Sprüher denken würde, was ja eventuell nicht zwangsläufig falsch wäre. Tatsächlich ist man in vielen Bereichen erfahrener, oft ohne es zu wissen, aber man sollte nicht vergessen, dass die sogenannte Kredibilität nun einmal auf einer illegalen Aktivität beruht, welche sicherlich gleichermaßen Ängste hervorgebracht hat. Damit muss man umgehen können und sie einfach als nicht komplett vertrauenswürdigen Filter akzeptieren. Man kann sich ja freuen, dass man überhaupt schon automatisch eine Vorselektion trifft und nicht komplett überfordert, vor lauter Angst eine Haltung einzunehmen, sang und klanglos untergeht. Romantische und strenge Ansprüche an den Sachverhalt Graffiti und schließlich auch an sich selbst zu stellen, mag ja zunächst eine ehrenwerte Sache sein, aber nur bis zu dem Punkt an dem die Erwartungshaltung sich als zu hochgestochen und zu allgemein herausstellt. Es wäre schier ungerecht all die Herausforderungen und negativen Symptome, die für mich eher einer Zeit und der darin so oder so stattfindenden persönlichen Entwicklung geschuldet sind, einer (jugend-)kulturellen Erscheinung zuzuschreiben. Nicht zuletzt weil man zu ihr eine emotionale und subjektive Beziehung hatte, sollte sie nicht mit Frust projiziert und so im Keim erstickt werden. Graffiti ist und bleibt eine Reaktion auf die Gesellschaft, es ist abhängig von ihr. Dementsprechend kann das Spektrum auch breit und plump ausfallen. Jede Generation hat ihre Sprüher.
An dieser Stelle können Aspekte des obenstehenden Textes kommentiert werden. Solltest du eine ausführlichere Replik auf den Originaltext von Oliver Kuhnert einsenden wollen, bitten wir dich, diese an hello@possible-books zu verschicken.
Am Diskurs teilnehmen